Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
hinausgingen, stand Roxy eine, wenn nicht sogar zwei Stufen über ihm. Sie war körperlich stärker, ihre Sinne waren schärfer, ihre Wunden heilten schneller. Und sie hatte eine besondere Antenne, eine Art sechsten Sinn, der ihr sofort signalisierte, wenn übernatürliche Kräfte in ihrer Umgebung am Wirken waren, eine Fähigkeit, die sich für ihre besonderen Aufgaben als äußerst nützlich erwiesen hatte.
Als Roxy leises Rumoren aus Richtung des Schranks hörte, in dem das Kind wartete, wurde sie allmählich unruhig. Es wurde Zeit, dass sie mit Frank Marin zu einem Ende kam. Außerdem war ihr die Lust an dem Katz-und-Maus-Spiel vergangen. Es gab jetzt Wichtigeres. Dana musste zurück zu ihrer Mutter, damit diese sie endlich wieder in die Arme schließen konnte. Das war das Mindeste, denn das Trauma dieses Erlebnisses würde die Kleine sicherlich behalten. Wenn man einmal auch nur einen kurzen Blick in die dunklen Abgründe dieser Welt geworfen hatte, vergaß man es nie. Das wusste niemand besser als Roxy selbst.
„Was für Informationen wollten deine Auftraggeber, diese Setnakht-Priester, haben? Um wen genau ging es da?“
„Das kann ich nicht sagen, wirklich nicht.“ Marin schüttelte heftig den Kopf. Der Angstschweiß drang ihm aus allen Poren. Roxy führte die Spitze der Klinge an die Stelle zwischen den Rippen zurück, wo sie ihm bereits einen Schnitt zugefügt hatte.
„Nein“, rief Marin, „bitte nicht! Ich kann es nicht sagen!“ Das klang nicht mehr so überzeugend.
Endlich kommen wir voran, dachte Roxy. Ungerührt sagte sie: „Gut. Dann bist ein toter Mann.“
Er rüttelte mit den Handschellen am Bettgestell, wobei er jedoch versuchte, dem Messer auszuweichen. „Du hast gesagt, du würdest mich nicht töten. Das hast du gesagt.“
Kalt lachte Roxy auf. „Als ob du noch nie etwas gesagt hättest, was nicht so ganz ernst gemeint war. Los, sag schon. Für wen interessieren sich die Setnakhts?“
Marin keuchte vor Anspannung. „Es geht um eine Frau“, stieß er endlich hervor.
„Welche? Den Namen!“
„Sie bringen mich um, wenn ich es sage.“
„Wenn du es nicht sagst, bringe ich dich um.“ Sie setzte das Messer zwei Zentimeter höher an und stach nur so tief, dass die Wunde anfing zu bluten. Der Geruch des Bluts kitzelte sie in der Nase, eigenartig süßlich. Unwillkürlich dachte sie an Kupfer. Marin schnappte nach Luft. „So hast du wenigstens noch eine kleine Chance. Sie sind nicht hier. Du hast noch Zeit, dich vor ihnen zu verstecken. Vor mir kannst du dich nicht mehr verstecken. Los! Ich will den Namen hören.“
Er schluckte einmal hart. „Kelley Tam.“
Das durfte, verdammt noch mal, nicht wahr sein.
Roxy nahm all ihre Selbstbeherrschung zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen. „Kelley Tam?“, wiederholte sie. „Da bist du sicher?“, fragte sie in sachlichem Ton.
„Ja, ganz sicher.“
„Weißt du, was sie von ihr wollen?“
„Nein.“
„Weißt du, wo sie steckt?“
„Nein.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Ich habe nicht sehr viel über sie in Erfahrung gebracht. Ihr Vater stammt aus Jamaika, die Mutter aus Chicago. Dort ist sie auch geboren und aufgewachsen. Dann war sie plötzlich verschwunden und hat ihre zwei Kinder zurückgelassen. Es ist, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Nicht die kleinste Spur von ihr. Ich schwöre es bei meiner toten Mutter.“
Als ob sie viel auf seine Schwüre gegeben hätte. Vermutlich gab es auf der Welt eine Menge Frauen, die Kelley Tam hießen. Dennoch hätte Roxy mit jedem Einsatz gewettet, dass es sich um eine ganz bestimmte Kelley Tam handelte. Um dieselbe, nach der Roxy schon nahezu ihr ganzes Leben lang suchte.
Kelley Tam war von der Bildfläche verschwunden, als Roxy fünf Jahre alt gewesen war. In einem rosa Pyjama, das Haar zu zwei Zöpfen geflochten, hatte Roxy in einem dunklen Torweg gekauert, als sie verlassen aufgefunden worden war. In all den Jahren waren ihre Versuche, die Spur ihrer Mutter aufzunehmen, vergeblich gewesen, obwohl sie gerade in den letzten Jahren über recht beachtliche Hilfsmittel verfügt hatte.
Roxy konnte sich nicht vorstellen, dass Marin oder die Setnakhts mehr Erfolg bei der Suche gehabt haben sollten. Eine andere Frage war, warum sich diese obskure Sekte überhaupt die Mühe machte, Marin als Spürhund nach Kelley auszusenden. Irgendetwas schien an dieser Geschichte nicht zu stimmen. Marin hatte den Namen auch verdächtig schnell und widerstandslos preisgegeben. Konnte es
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