Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
ausnahmslosmenschliche Torsos, denen die Haut abgezogen war. Genau wie bei Lokan.
Schweigend gab Dagan die Fotos zurück und betrachtete den leblosen Körper vor sich. Was ging hier vor? Konnte diese jämmerliche Gestalt Lokan getötet haben? War ein einfacher Sterblicher imstande, einen Seelensammler und Sohn Sutekhs zu häuten und zu zerstückeln? Das war schlichtweg unmöglich.
„Das passt alles nicht zusammen“, murmelte Dagan unwillig.
Dann nahm er den Anhänger, der dem verblichenen Joe Marin aus dem Hemdkragen gefallen war, genauer in Augenschein. Es war das Ankh mit den Flügeln und Hörnern, wie er es vor etwa elf Jahren gesehen hatte. Nachdem er es in die Hand genommen hatte, drehte er es um. Auf der Rückseite prangten die ihm schon vertrauten Hieroglyphen.
Auch Alastor hatte sich heruntergebeugt und musterte das Schmuckstück, das Dagan auf der flachen Hand hielt. „Das Zeichen der Isistöchter.“
„Das sie aber für gewöhnlich nicht um den Hals tragen, sondern sich in die Haut brennen als so eine Art Initiationsritus und Mutprobe“, erwiderte Dagan.
Irritiert fragte Alastor: „Sagtest du nicht, du weißt kaum etwas über die Isistöchter?“
„Was ich weiß, ist auch wenig genug. Gemessen an der Zeit, die ich gebraucht habe, um etwas herauszubekommen. Es gibt unter den Isistöchtern drei Grade: die Wächterinnen, die Lehrmeisterinnen und die Novizinnen.“
„Und?“
Dagan zuckte die Schultern. „Das ist schon alles, was ich weiß. Die Damen sind äußerst elitär und bleiben lieber für sich. Manchmal könnte man glauben, es gibt sie gar nicht.“
Er starrte noch immer auf den Anhänger. Seine Finger hatten Blutspuren darauf hinterlassen, was ihn aus einem ihmunerfindlichen Grund maßlos störte. Schnell wischte er sich die Hände an den Hosenbeinen ab und musste dabei daran denken, wie er das vor elf Jahren schon einmal gemacht hatte. Damals in Chicago. Bevor er ihr die Fesseln zerrissen hatte. Augenblicklich hatte er sie wieder vor Augen, ihr hübsches junges Gesicht mit der Haut wie helle Schokolade und dem wild entschlossenen Blick ihrer braun-grünen Augen.
Warum dachte er noch an sie? Sie hatte eins von dem unendlichen Meer an menschlichen Gesichtern. Er hatte sie am Leben gelassen, hatte ihr die Fesseln abgenommen, ihr seine Lederjacke geschenkt, sogar Geld gegeben, damit sie die erste Zeit hatte überbrücken können. Bei niemandem vorher oder nach ihr wäre er auf die Idee gekommen.
Das silberne Ankh, das Bild von dem Mädchen mit demselben Anhänger in Joe Marins Fotokiste – was hatte das zu sagen? Gab es eine Verbindung zwischen dem Mädchen und diesem stinkigen Mausoleum? Zwischen ihr und Joe Marin selbst? Oder gar einen Zusammenhang mit der Ermordung seines Bruders? Höchst unwahrscheinlich. Und doch kam plötzlich alles zusammen, und Dagan glaubte prinzipiell nicht an Zufälle.
„Was zur Hölle hat sie damit zu tun?“, fragte er sich laut. „Von wem sprichst du?“, erkundigte sich Alastor. „Meinst du Isis?“
„Nicht direkt.“ Er nahm den Anhänger und zog dem Toten die Kette, an dem er hing, über den Kopf. Als Dagan sich aufrichtete, sah Alastor ihn fragend an. Wenigstens die Andeutung einer Erklärung musste er seinem Bruder jetzt anbieten. „Ich muss dieses Ankh irgendwo schon einmal gesehen haben“, erklärte er.
„Und wo?“
Das wollte Dagan lieber nicht sagen. Dieser Fährte wollte er allein folgen. „Ich werde der Sache nachgehen“, antwortete er deshalb ausweichend.
Es ist wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel, dachte Dagan. Es gab keine eindeutigen Spuren, die zu Lokans Mörder führten. Keiner sagte etwas, oder es traute sich niemand, etwas zu sagen, was noch wahrscheinlicher war. Um die Wahrheit zu unterdrücken, gab es kein besseres Mittel als Angst. Das galt auch in der Unterwelt.
Gedankenverloren las Dagan die Worte, die in Hieroglyphen auf der flachen Rückseite des Ankh graviert waren.
Oh mein Herz, das ich von meiner Mutter
empfangen habe,
mein Herz, das ich von meiner Mutter
empfangen habe,
mein Herz der wechselnden Lebensjahre,
zeuge nicht gegen mich bei meiner Prüfung.
Es waren dieselben Verse, die er auf dem Ankh des Mädchens gelesen hatte. Vielleicht war es sogar derselbe Anhänger. Aber daran wollte er nicht einmal denken.
„Das bezieht sich auf die Mutter“, murmelte Alastor, der mitgelesen hat te.
„Ja, auf die Mutter der Götter und Göttin aller Mütter und der Fruchtbarkeit … Isis.“
Dagan gab sich
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