Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
sprechen. Ihr Mund fühlte sich trocken an, als wäre sie mit Sägespänen gefüttert worden.
Dagan ging zu dem kleinen Tisch beim Fenster, auf dem der Glaskrug mit dem blauen geschwungenen Griff stand, aus dem sich Dagan zuvor sein Wasser eingeschenkt hatte. Das hatte sie also nicht geträumt.
Er füllte ihr ein Glas. „Ohne Zucker, bitte“, bat Roxy. „Ach, erinnerst du dich daran?“
Sie fühlte sich wie ausgedörrt. Noch lieber hätte sie gleich den ganzen Krug gehabt. Stattdessen bracht Dagan ihr ein halb volles Glas. Roxy bedeckte ihre Brüste mit dem Laken, unter dem sie gelegen hatte, und richtete sich auf. Sie rechnete damit, dass ihr gleich wieder schwindelig werden und sie erneut wegtreten würde. Doch zum Glück geschah nichts dergleichen. Sie blickte zu Dagan auf, als er vor ihr stand, und bewunderte still seinen vollendeten Körper. Dass ihr in ihrer Lage nichts anderes einfiel, wunderte sie selbst. Andererseits: Eine Frau, die dieser Anblick kalt gelassen hätte, müsste wirklich schon tot sein.
„Trink langsam, damit du nicht wieder alles aushusten musst“, ermahnte er sie.
Wieder ? Sollte das heißen, dass das schon einmal passiertwar? Sie trank das Wasser, reichte ihm das Glas und fragte: „Wie lange …?“ Und was hatte er während dieser Zeit gemacht? Sie gewaschen und das Bettzeug gewechselt? Was für eine unglaubliche Vorstellung.
Er verstand, was sie fragen wollte. „Wie lange du schon hier liegst? Drei Tage.“
Drei Tage. Sie erinnerte sich nur an einzelne Szenen wie an einzelne Bilder aus einer Diashow. All das Blut, die unerträglichen Schmerzen. Sie wusste noch, wie er sie durchs Haus getragen, sie ins Badezimmer und wieder zu Bett gebracht hatte, wie er beruhigend auf sie eingeredet hatte. Nein, an die Einzelheiten wollte sie nicht denken. Es war zu entwürdigend.
Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie völlig nackt im Bett lag. Sie war schockiert. „Du hast mich ausgezogen?“
Er lächelte süffisant. „Wäre es dir lieber gewesen, tagelang in deinen zerfetzten, blutbefleckten Klamotten dazuliegen?“
„Allerdings.“
Er lachte. „Zum Glück warst du nicht in der Lage, Widerworte zu geben. Ich denke, es ist besser so, wie ich es entschieden habe.“
Sie starrte ihn an. „Was ist mit deinem Hemd?“
„Es ist voll von deinem Blut.“
Es war absurd. Roxy lag in ihrem Bett und konnte den Blick nicht von Dagan lösen. Gab es nicht genügend andere Dinge, die jetzt wichtiger gewesen wären? Sie wäre beinahe einem Reaper zum Opfer gefallen. Mit knapper Not war sie dem Tod entronnen. Aber daran dachte sie nur kurz. Viel mehr beschäftigten sie die beiden Küsse. Dagan hatte sie geküsst. Zwei mal.
Der erste Kuss war auf der Veranda passiert, noch bevor die Feuerdämonen aufgekreuzt waren. Er war so heiß und wild gewesen wie in ihren Träumen, und obwohl sie ihn im Traum schon so oft geküsst hatte, war dieses erste Mal einSchock gewesen und hatte ein unwiderstehliches Verlangen in ihr geweckt. Dann der zweite Kuss, als sie hilflos im Wäldchen gelegen hatte. Der Geschmack seines Bluts auf den Lippen, seine Zunge tief in ihrem Mund. Da hatte er ihr seine Gefühle gezeigt, seine Wildheit, seine Wut, seine Verzweiflung, als er geglaubt hatte, dass es mit ihr zu Ende ging. Dieser Kuss hatte ihr über seine und ihre Gefühle mehr offenbart, als ihr lieb war. Was sie dadurch erfahren hatte, machte ihr Angst.
„Du hast mich allein gelassen.“ Sie erschrak. Die Worte waren wie von selbst gekommen. Sie mussten sich aus einem Winkel ihres Unterbewusstseins losgerissen haben und waren gegen ihren Willen an die Oberfläche gekommen. Roxy wünschte, sie könnte sie wieder zurücknehmen.
Dagan fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und betrachtete gedankenversunken das leere Glas, das er in der Hand hielt, als fragte er sich, wie es dort hingekommen war.
Antworte nicht darauf, dachte Roxy. Das hast du jetzt nicht gehört. Es war für sie beide besser, nichts von irgendwelchen Gefühlen füreinander zu wissen. Vielleicht hatte sie auch alles falsch gedeutet – seine Küsse, sein Bemühen, ihr das Leben zu retten. Vielleicht hatte er das alles nur getan, weil er sich von ihr noch Informationen erhoffte.
Aber Dagan hatte ihre Worte gehört. „Ich wollte damals, dass du diesen Vorfall in Chicago vergisst und ein normales Leben führst“, erklärte er, ohne sie anzusehen, „das Leben einer ganz gewöhnlichen jungen Frau. Dafür musste ich aus deinem Leben verschwinden, denn
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