Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
war, fiel ihr von Minute zu Minute schwerer. Sie war kurz davor aufzugeben.
Aber Dagan hatte plötzlich verstanden. Roxy erkanntees an seinem Blick. Im ersten Augenblick zuckte er zurück und sah sie befremdet an, sodass sie schon dachte, er hielte sie für verrückt und würde es ihr rundweg abschlagen. Auch wenn es das Einzige war, das sie jetzt noch retten konnte. So schwach sie war, es empörte Roxy. Schließlich war er vor elf Jahren derjenige gewesen, der sie zum Blutsauger gemacht hatte. Waren die Reaper genauso? Brauchten sie auch die gelegentliche Stärkung durch menschliches Blut und hatte sie sich vor elf Jahren bei Dagan infiziert?
Resigniert schloss sie die Augen, öffnete sie aber gleich darauf wieder, als sie etwas Feuchtes auf den Lippen spürte. Über sich sah sie Dagans Handgelenk. Es war vier Zentimeter unterhalb der Hand, die sich schon ein Stück weit neu gebildet hatte, verletzt. Ein Fetzen Haut hing herunter, und ein warmer Strom ergoss sich daraus. Als sie die ersten Tropfen schmeckte, gab sie einen fast tierischen Laut von sich, ein ungeduldiges, hungriges Knurren. Dagan lächelte zufrieden. Roxy sah, dass sein Mund blutverschmiert war. Offenbar hatte er sich die Pulsader aufgebissen.
Sie versuchte, sich ein Stück aufzurichten, um dem belebenden Quell näher zu sein und mehr von seinem Blut mit dem Mund aufzufangen, aber sie war zu schwach dazu. Dagan musste es bemerkt haben, denn schon im nächsten Moment saß er rittlings auf ihrer Brust und presste die Wunde, die er sich selbst beigebracht hatte, auf ihre Lippen. Mit der freien Hand stützte er leicht ihren Kopf.
Dagans pulsierendes Blut füllte ihren Mund, und Roxy schluckte. Es schmeckte nicht gerade nach Ambrosia, sondern eher metallisch, etwas salzig und hatte eine gewisse, schwer zu beschreibende Schärfe. Für Roxy waren es die außerordentliche Energie und die Lebenskraft, die diesen eigenartigen Geschmack hervorriefen. Das Blut eines Reapers – das hatte zugleich den Reiz des Verbotenen. Sie erinnerte sich an denselben Kitzel in ihren Träumen.
Gierig stöhnend biss sie sich in dem offenen Handgelenk fest. Sie wollte mehr. Mehr. Dagan gab einen kurzen, gepressten Laut von sich, zuckte aber nicht zurück. Sie wusste, dass sie ihm wehtat. Trotzdem hörte sie nicht auf. Sie brauchte sein Blut. Sie wollte leben.
Eine Weile brauchte es, dann war alles wieder da. Roxy spürte wieder die zuckenden Schläge ihres geschundenen Herzens. Auch die Gerüche und Geräusche um sie herum nahm sie wieder wahr. Und trotz der unglaublichen Schmerzen empfand sie eine grenzenlose Erleichterung. Gleichzeitig war sie wieder so weit bei Sinnen, dass ihr bewusst wurde, dass sie Dagan gerade nicht unerheblich verletzte. Sie hörte auf, ihn wie ein tollwütiges Tier zu beißen, und öffnete nur den Mund, um sein Blut weiter aufzufangen. Die Lebensgeister kehrten wieder. Roxy schöpfte Hoffnung.
Wie lange sie sich so an Dagan nährte, wusste sie nicht. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, auch wenn es wahrscheinlich nur ein paar Minuten waren. Geduldig hielt er ihr das Handgelenk hin. Sie sollte sich satt trinken.
Während sie das tat, erwachten noch andere Gelüste in ihr. Hätte sie die Kraft dazu gehabt, hätte sie ihn zu Boden geworfen, sich auf ihn gesetzt und darauf gewartet, dass er zu ihr kam und so tief in sie eindrang, dass er sie ganz ausfüllte.
Genug! Die Fantasie ging mit ihr durch. Sie musste damit aufhören. Sie musste auch aufhören, ihn auszusaugen. Er hatte vor Kurzem seine Hand verloren und in dem Kampf sicherlich auch viel Blut verloren. Wie viel davon konnte ein Seelensammler wie er entbehren?
Seufzend löste sie die Lippen von seiner Wunde und drehte den Kopf weg.
„Besser?“, fragte er. Seine Stimme klang etwas belegt. Roxy wollte ihm ein Zeichen geben und versuchte, die Hand zu heben. Aber die sank wieder kraftlos zurück. Ihre Kleider, der Boden unter und neben ihr, alles war durchtränktvon ihrem Blut. Aber sie schien keine klaffende Wunde mehr in der Brust zu haben, obwohl sie es nicht verstehen konnte. War der andere Reaper ihr nicht mit der Faust in die Rippen gefahren, und hatte er nicht ihr Herz schon zwischen den Fingern gehabt?
„Ich weiß nicht …“ War das tatsächlich ihre Stimme? Dieses klägliche Wispern?
„Psst“, sagte er und legte ihr den Finger auf die Lippen. „Nicht sprechen.“ Er richtete sich auf und schien angespannt in die Nacht hineinzulauschen. „Ich muss dich jetzt fortbringen, damit du
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