Herzenstimmen
musste, deshalb sahen wir sie auch so oft Vokabeln wiederholen. Eines, das ihr half, eine neue Tür zu öffnen oder ein Fenster, ihr eine fremde Welt zu erschließen, mit mir zu kommunizieren.
Wir nahmen jeder einen Griff und wuchteten den Korb gemeinsam durch den Bambushain.
Am Nachmittag, während des Englischunterrichts, tat mir von der ungewohnten Arbeit jeder Knochen weh. Es war ein gutes Gefühl, das mich meinen Körper auf angenehme Weise spüren ließ.
Abends war ich so müde, dass mir schon beim Essen die Augen zufielen.
So verstrich die Zeit.
Morgens arbeiteten wir auf dem Feld, am späten Vormittag kehrte ich mit Thar Thar und einem der Mädchen ins Kloster zurück. Dort verbrachten wir praktisch jede Minute miteinander. Er half mir, wenn ich mich um meinen Bruder kümmerte, wir kochten und machten die Wäsche zusammen. Wenn wir uns in der Küche oder am Brunnen wie zufällig kurz berührten, bedeutete mir das mehr, als ich mir eingestehen wollte. In seinen Augen sah ich, dass es ihm ähnlich ging.
Am Nachmittag gaben wir Unterricht, der nun hauptsächlich aus meinen Englischstunden bestand. Darauf freute ich mich den ganzen Tag, besonders auf Moe Moe und ihre Wissbegierde, mit der sie nach und nach alle anderen ansteckte. Thar Thar saß jedes Mal in der hintersten Reihe, seine Anwesenheit tat mir gut.
Wir suchten beide unsere Nähe, aber eine ruhige Stunde für Gespräche, wie wir sie in den ersten beiden Tagen geführt hatten, fanden wir trotzdem nicht. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass er dem aus dem Weg ging. Wenn ich mich nach dem Abendessen noch auf die Treppe setzte, kam er zwar dazu, hatte aber immer Moe Moe oder Ei Ei oder beide dabei. Obgleich ich lieber allein mit ihm gewesen wäre, war ich nicht enttäuscht. Die nächste Gelegenheit, Zeit mit ihm zu verbringen, würde sich ergeben, wenn es so weit war, daran zweifelte ich nicht.
Es ging mir im Kloster so gut wie lange nicht mehr, trotz der körperlichen Anstrengung, trotz einer Toilette, die aus einem Holzverschlag bestand, trotz der fehlenden Dusche. Ich schlief gut, hatte weder Rücken- noch Kopfschmerzen. Es gab Momente, da erfüllte mich eine Leichtigkeit, wie ich sie seit vielen Jahren nicht mehr gespürt hatte. Amy hätte mich vermutlich »tiefenentspannt« genannt.
Moe Moe brachte mir jeden Morgen heißen Tee und eine frische Hibiskusblüte an mein Lager, die sie mir später ins Haar steckte. Als ich einmal unvorsichtigerweise Thar Thar gegenüber bemerkte, dass ich in New York lieber Kaffee als Tee tränke, kam sie am nächsten Morgen mit heißem Wasser und einer Tüte Nescafé, den sie, wie ich später erfuhr, extra aus Hsipaw für mich geholt hatte. Ihr gehauchtes »You are very welcome« und das folgende Lächeln, das schönste, das traurigste, das ich je gesehen hatte, begleiteten mich bis in den Abend.
Auch U Ba erholte sich langsam. Ich hatte ihn zweimal am Tag eingecremt, kontrollierte jeden Morgen und Abend seinen Hustenschleim, ohne darin Spuren von Blut zu finden. Er bekam weder Schmerzen in der Brust noch unter den Achseln.
Thar Thar behauptete, der Husten wäre nicht nur seltener geworden, auch der Klang hätte sich verändert, das sei ein gutes Zeichen. Ich hörte keinen Unterschied.
Die ersten Tage hatte mein Bruder fast ausschließlich schlafend verbracht, nun kam er wieder zu Kräften, stand auf und be mühte sich, uns zu helfen. Wir fütterten zusammen die Hühner, sammelten die Eier ein, fegten das Haus, putzten und schnitten Gemüse. Nur beim Wäschewaschen wurde er schnell müde.
Ich wollte ihm die Felder zeigen, von denen ich immer mit vollen Körben und schmutzigen Händen zurückkehrte. Wir liefen durch den Bambushain, sein Schritt war noch etwas schleppend, er hakte sich bei mir ein, und ich drückte seinen Arm fest an mich.
Wir erreichten das Ende des Hains, vor uns lagen eine bergige Landschaft und die bewirtschafteten Felder.
»Wie lange sind wir eigentlich schon hier?«, fragte er plötzlich.
»Keine Ahnung. Eine Woche? Zehn Tage?« Normalerweise besaß ich ein gutes Zeitgefühl.
U Ba lehnte für einen Moment seinen Kopf an meine Schulter.
»Es ist schön hier«, sagte er.
»Sehr«, stimmte ich ihm zu.
»Man möchte gar nicht wieder weg …«
Ich wusste nicht, ob das eine Anspielung sein sollte, und reagierte nicht.
»Wie lange möchtest du noch bleiben?«, wollte mein Bruder wissen und blickte aufs Feld.
Die Frage hatte ich befürchtet. Seit Tagen ging ich ihr aus dem Weg,
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