Herzenstimmen
gesehen als meine. Sie hatten ein Leid erfahren, das ich nur vom Hörensagen kannte. Wenn überhaupt. Ihre Seelen wussten mehr als meine. Sie erwarteten gar nichts von mir. Ich musste mich nicht beweisen. Nichts leisten. Was immer ich ihnen geben würde, war genug. Sie waren dankbar für die Zeit, die ich ihnen widmete, ob es Minuten sein würden, Stunden oder Tage. Demut und Würde gingen von ihnen aus, eine Bescheidenheit, die mir den Atem raubte.
Ich schluckte. Räusperte mich. Knetete meine Hände, dass sie schmerzten. Blickte zu Boden.
»How are you?«, sagte ich leise.
Stille.
»How are you?«, wiederholte ich.
»How are you?« klang es zurück. Im Chor.
Gehaucht.
Gerufen.
Geflüstert.
Gemurmelt.
Noch nie hatte ich diesen Satz in so verschiedenen Varianten gehört. Jede Stimme gab ihm ihr eigenes Gesicht. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie ihn aussprachen. Die Bedeutung, die sie ihm verliehen. Aus ihren Mündern, in diesem halb ver fallenen Kloster, verlor er seinen How-are-you-I-am-just-fine- how-about-yourself-Klang.
»How are you?«, sagte ich, jedes Wort sorgfältig betonend.
»How are you?«, wiederholten sie. Kraftvoll, laut und deutlich.
Ich lächelte erleichtert. Sie lächelten zurück.
»My name is Julia. What is your name?«, fragte ich und schaute Moe Moe an. Ich sah, wie es in ihrem fiebrigen Kopf arbeitete. Wie sie ihr Gedächtnis prüfte, ob die Frage einen vertrauten Klang besaß. Wie sie jedes Wort in Gedanken sorgfältig nach seinen möglichen Bedeutungen untersuchte, sie gegeneinander abwog, Entscheidungen traf. Mut fasste. Ihre Lippen bewegten sich so bedächtig wie Hände, die ein Neugeborenes streicheln.
»My name is Moe Moe«, sang sie.
»Very good!«, rief ich.
Der Stolz in ihren Augen.
»What is your name?« Mein Blick ging zu Ko Lwin.
Auch in ihm arbeitete es. Er biss sich auf die Unterlippe, runzelte die Stirn, seine Gedanken drehten sich im Kreis, das Gesagte erschloss sich ihm nicht.
»My name is Julia. What is your name?«, sagte ich noch einmal. Und machte das Rätsel nur größer.
Er nahm sich Zeit, ich war nicht in Eile. Die anderen warteten geduldig.
»I am very fine«, lispelte er schließlich so leise, dass ich ihn kaum verstand.
Moe Moe drehte sich um und flüsterte ihm etwas zu. Ein Flackern in seinem Gesicht. Der Mut für einen zweiten Versuch.
»My … name … is … Ko … Lwin?«, fragte er so vorsichtig, als hinge davon ein Leben ab.
Ich nickte. »Good. Very, very good!«
Die Freude der anderen über seine Leistung.
Ich fragte sie nach ihren Namen. Wie es ihnen ging. Woher sie kamen.
Thar Thar lächelte mir aus der hintersten Reihe zu.
Ob es mir recht war oder nicht, dieses Lächeln verursachte mir Herzklopfen. So heftig, wie ich es schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte.
Bevor ich einschlief, dachte ich an Amy. Herze n stimmen. Das würde ihr gefallen. Wahrscheinlich würde sie eine ganze Serie von Bildern dazu malen. »Herzenstimmen I«. »Herzenstimmen II«. Oder »Die Kunst des Herzenstimmens«. »Der Herzenstimmer«. »Ein verstimmtes Herz«. Ich sah rote Leinwände vor mir. Mit Kreisen. Schwarze Noten in der Mitte. Oder ein weißes Papier mit einem roten Kreis, darüber Striche, die eine Stimmgabel andeuteten.
Oder irrte ich? Amy sagte immer, es gäbe Themen, die könne man nicht malen. Nicht mit Worten beschreiben. Die wären so groß, dass sich ihnen nur Komponisten nähern könnten. Wenn überhaupt. Alle anderen Künstler hätten sich vor ihnen in Demut zu üben.
Über diesen Gedanken fielen mir die Augen zu.
In der Nacht weckten mich dumpfe Schläge. Als ramme jemand mit einem Vorschlaghammer Pfähle in die Erde. Sie drangen aus einiger Entfernung zu mir, besaßen ihren eigenen Rhythmus, klangen mal heller, mal dunkler. Ich horchte kurz, war aber zu müde, um ihnen längere Beachtung zu schenken, und schlief nach wenigen Minuten wieder ein.
6
S ie hatte Träume, keine Pläne.
Sie konnte sich vorstellen, Kunstgeschichte zu studieren. Oder Literaturwissenschaft. Schauspiel. Oder Lehrerin zu werden.
Sie konnte sich vieles vorstellen. Die Welt stand ihr offen. Das war das Problem. Eines von vielen.
Das Leben kannte so viele Wendungen. Die Vielzahl der Möglichkeiten war verwirrend. Sie war jung und suchte Rat. Eine ruhige, starke Hand, die ihr die Richtung wies. Sie sehnte sich nach einem Kompass. Ihre Nadel drehte sich fortwährend im Kreis.
Was sie bekam, waren Vorschläge. Angebote. Unverbindlich und nicht
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