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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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überwindet.
    Ich erzählte von Schmetterlingen, die man an ihrem Flügelschlag erkennt.
    Von Füßen, die nicht laufen können.
    Von einer Liebe, die Blinde zu Sehenden macht.
    Die stärker ist als die Angst.
    Die uns wachsen lässt und keine Grenzen kennt.
    Er folgte meiner Erzählung aufmerksam. Als ich sie beendet hatte, musterte er mich lange und fragte: »Kannst du auch Herzen hören?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Bist du sicher?«
    »Natürlich.«
    Er überlegte. »Dein Bruder?«
    »Nein.«
    »Wie schade.« Thar Thar blickte mich nachdenklich an. »Ich kannte einen Menschen, der konnte Herzen stimmen.«
    »Herzen stimmen?«, fragte ich, unsicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte.
    »Ja, wie ein Instrument. War ein Herz verstimmt, stimmte er es wieder.«
    »Jedes?«
    »Nicht jedes.«
    »Wie kann ein Herz verstimmt sein?«
    Thar Thar neigte den Kopf zur Seite und schmunzelte. »Das müsste die Tochter eines Herzenhörers eigentlich wissen.«
    Machte er sich lustig über mich?
    »Ich fürchte, da gibt es viele Wege. Hast du noch nie etwas von Herzflimmern gehört? Von Herzjagen? Herzstolpern? Wenn ein Mensch durch das Leben böse geworden ist oder ihn Enttäuschungen bitter gemacht haben wie ein Stück Tamarinde, schlägt es zu tief. Hat er Angst, beginnt es aufgeregt zu flattern, wie ein junger Vogel. Ist er traurig, pocht es so langsam, dass man meinen könnte, es hört jeden Augenblick ganz auf. Herrscht in der Seele ein allzu großes Durcheinander, schlägt es ganz und gar unregelmäßig. Gibt es das bei euch nicht?«
    »Doch. Aber wenn unser Herzrhythmus gestört ist, gehen wir zum Kardiologen.«
    »Das ist etwas anderes. Sie sind Mechaniker des Herzens. Mit Herzenstimmen haben die nichts zu tun.«
    »Wer dann?«
    Thar Thar räusperte sich, stieß das Messer ins Holzbrett und schwieg. Über sein Gesicht legte sich ein Schatten.
    »Wie stimmt man Herzen?«, fragte ich leise.
    Er antwortete nicht.
    »Braucht man dazu besondere Fähigkeiten?«
    Er schaute an mir vorbei. Seine Unterlippe begann zu zittern.
    Wo war sein wunderschönes Lachen? Das er mit seiner Vergangenheit gar nicht hätte haben dürfen.
    »Was macht ein Herzenstimmer? Wer kann das? Ein Magier? Ein Astrologe?«
    Kopfschütteln. Ohne Worte.
    Thar Thar stand auf, drehte sich um und ging in die Halle. Kurz darauf hörte ich ihn im Hof mit den Hühnern sprechen.
    Was mochte es mit dem Herzenstimmen auf sich haben? Wer war der Herzenstimmer gewesen, den er kannte? Ko Bo Bo? Pater Angelo? Warum verfinsterte sich sein Gesicht bei der Erinnerung an ihn?
    Ich zerteilte die restlichen Tomaten, schnitt danach Dutzende von Karotten in Scheiben und wartete auf seine Rückkehr. Vergeblich.
    Als ich fertig war, sah ich ihn durch das Küchenfenster vor dem Schuppen sitzen und Kleinholz hacken.
    Thar Thar kehrte erst am Nachmittag mit den anderen zusammen zurück. Als wäre nichts gewesen, fragte er mich, ob ich Lust hätte, den Jugendlichen ein paar englische Sätze beizubringen. Das könnte ich mit Sicherheit viel besser als er, und eine echte Amerikanerin als Lehrerin wäre für sie eine zusätzliche Motivation.
    Kurz darauf saßen die zwölf in drei Viererreihen auf den Brettern in der Mitte der Halle. Ich faltete mein Kissen doppelt, um höher zu sitzen, und hockte mich vor sie. Thar Thar stand neben mir, sagte ein paar Sätze auf Burmesisch, seine Schüler nickten, über manches Gesicht flog ein gespanntes Lächeln, dann setzte er sich in die hinterste Reihe. Ein Dutzend Augenpaare blickten mich nun erwartungsvoll an.
    Ich schwieg.
    Was mir eben noch so einfach erschienen war, ein wenig in meiner Muttersprache zu parlieren und ihnen dabei ein paar nützliche Sätze beizubringen, kam mir plötzlich wie ein Ding der Unmöglichkeit vor. Eine Anmaßung. Eine Überforderung. Englischunterricht ohne Papier und Stift. Ohne Tafel. Ohne Bücher. Ohne Plan. Die Neugierde in ihren Gesichtern. Was erwarteten sie von mir? Was konnte ich ihnen geben?
    Sie warteten geduldig.
    Mein Schweigen beunruhigte mich, nicht sie.
    Ich schaute von einem zum anderen. Moe Moe, die trotz ihres Fiebers in der ersten Reihe saß. Neben ihr Ei Ei, die mir ihr steifes Bein entgegenstreckte. Der taube Ko Maung, der meine Lippen fixierte, als lägen darauf alle Geheimnisse dieser Welt. Hinter ihnen Ko Lwin, der trotz seines Buckels aufrecht saß, dicht an ihn herangerutscht die zitternde Toe Toe.
    In diesem Moment verstand ich, was mich so befangen mach te. Ihre Augen. Sie hatten mehr

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