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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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n den folgenden Tagen quälte mich die Stimme mit ihren Fragen, in den Nächten weckte mich ihr Schluchzen. Der Schlafmangel zehrte an mir. Mein Körper schmerzte, ich konnte mich auf nichts konzentrieren, die Zeitung legte ich nach wenigen Minuten weg, an ein Buch war gar nicht zu denken. Immer häufiger kommentierte sie mein Verhalten, sagte sie mir, was ich zu tun oder zu lassen hätte. (Lauf nicht so schnell. Iss nicht so hastig. Du hast es immer so eilig. Du kaufst zu viel, dein Schrank ist voll.)
    Meine Bemühungen zu arbeiten scheiterten ebenso wie meine Versuche, mich abzulenken. Im Kino protestierte die Stimme gegen »Der Teufel trägt Prada«, »Brokeback Mountain« fand sie schrecklich. (Warum guckst du so etwas? Warum lachst du darüber? Warum müssen diese Menschen so leiden?) Beide Filme verließ ich vor ihrem Ende.
    Im Fitnessclub spottete sie über die vielen schwitzenden Menschen. (Warum auf einem Fahrrad sitzen, das nicht fahren kann? Wieso laufen sie auf der Stelle? Haben sie nichts Besseres zu tun?)
    Im Central Park fing sie an, laut zu summen und zu singen.
    Egal was ich tat, wohin ich ging, was ich sah: Ich dachte an nichts als die Stimme in meinem Kopf. Selbst wenn sie ruhig war.
    Bei Mulligan entschuldigte ich mich mit einer dramatischen E-Mail, in der ich nicht näher spezifizierte ernsthafte gesundheitliche Probleme andeutete, weitere aufwendige Untersuchungen seien vonnöten. Er antwortete mit einer besorgten Mail und wünschte gute Besserung. Immerhin.
    Auf meinen rastlosen Streifzügen durch die Stadt fiel mir in der U-Bahn-Station am Union Square ein Mann auf. Er war etwa in meinem Alter, trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, und zwischen seinen Beinen lag eine Aktentasche. Er blickte stur geradeaus und redete laut. Um ihn herum hetzten die Menschen von Gleis zu Gleis. Der Mann rührte sich nicht von der Stelle. Zwischen dem ohrenbetäubenden Lärm der einfahrenden Züge schnappte ich vereinzelte Satzfetzen auf. »Hört auf den Lord … wir sind alle Sünder … vertraut dem Lord … ihr habt euch verirrt …« Niemand außer mir schenkte ihm Beachtung, und selbst wenn sich jemand erbarmt hätte und stehen geblieben wäre, es war unmöglich, auch nur einen zusammenhängenden Satz zu verstehen. Ich fragte mich, was ihn dazu trieb. Hörte auch er eine Stimme? Befahl sie ihm, auf einer der größten U-Bahn-Stationen New Yorks gegen einfah rende Züge anzupredigen? Welche Macht würde die Stimme über mich noch erlangen?
    Trotz meiner Angst nahm ich die verschriebenen Psychopharmaka nur noch zweimal. Es war nicht der Einspruch der Stimme, der mich davon abhielt. Auch nicht die möglichen Nebenwirkungen. Es war die erhoffte Wirkung. Der Gedanke, dass ich eine chemische Substanz zu mir nahm, die sich meiner bemächtigte. Mich steuerte, kontrollierte. Eine seltsame Schwere hatte mich gleich beim ersten Mal überkommen. Das Gefühl, eine Fremde in meinem eigenen Körper zu sein.
    Alles in mir sträubte sich dagegen. Ich wollte mich unter keinen Umständen der Macht dieser kleinen weißen Tabletten ausliefern. So weit war ich noch nicht. Es musste einen anderen Weg geben, die Stimme loszuwerden. Ich musste etwas ganz anderes ausprobieren, ich wusste nur nicht, was es sein könnte. Sollte ich Amys Rat folgen und mich mit ihr in die Wälder von Upstate New York zurückziehen? Meditieren? Ich hatte Angst, dass die Ruhe dort meinen Zustand nur verschlechtern würde.
    Das Einzige, das half, war klassische Musik. Wenn ich auf meinem Sofa lag, Mozart, Bach oder Haydn hörte, verstummte die Stimme. Die Klänge von Violine, Cello und Klavier wirkten wie Stimmenbeschwörer. Als würden ihre Melodien sie zur Ruhe betten. Doch durfte ich gleichzeitig nichts anderes machen. Kein Buch zur Hand nehmen, nicht aufräumen oder kochen. Sie meldete sich sofort. Lass das. Entscheide dich: Musik hören oder lesen. Musik hören oder Essen zubereiten. Beides zur selben Zeit geht nicht. Ich würde immer viel zu viel auf einmal machen, statt mich auf eine Sache zu konzentrieren. Das konnte nicht gut gehen. Sie ertrug es nicht.
    Die Thanksgiving-Feiertage machten alles noch schlimmer. Zum ersten Mal in meinem Leben verbrachte ich sie allein. Amy war zu einer Verwandten nach Boston gefahren. Die wenigen anderen Freunde, mit denen ich in dieser Zeit gern zusammen gewesen wäre, feierten mit ihren Familien. Das halbe Land war unterwegs. Die halbherzige Einladung meines Bruders, nach San Francisco zu kommen, hatte ich

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