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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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typische Abwehrreaktion.«
    Der spinnt.
    »Versuchen Sie, sie zu ignorieren.«
    »Wenn ich das so einfach könnte, säße ich nicht hier.«
    »Ich weiß, aber versuchen Sie es. Das müssen Sie lernen. Lassen Sie die Stimme ruhig reden. Hören Sie nicht hin. Was sie sagt, ist unwichtig. Es hat mit Ihnen nichts zu tun.«
    Er weiß nicht, wovon er spricht. Der spinnt. Glaube mir. Er ist ein typischer Saya Gyi.
    Was war ein Saya Gyi? Ich dachte an U Ba. Ich dachte an Amy. Mir drehte sich der Kopf.
    »Ich verschreibe Ihnen Zyprexa«, hörte ich ihn wie durch eine Wand zu mir sprechen. »Nehmen Sie nachher fünf Milligramm und dann die kommenden sieben Tage jeden Abend die gleiche Menge, das wird Ihnen helfen. Es kann zu Gegen anzeigen kommen. Sie werden sich in den ersten Tagen wahrscheinlich müde und schläfrig fühlen. Gehen Sie in dieser Woche nicht mehr ins Büro. Manche Patienten klagen auch über Gewichtszunahme. Schwindel. Verstopfung. Aber das geht in den meisten Fällen vorüber. Keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Aber mit diesem Mittel werden Sie spätestens nach Thanksgiving wieder arbeitsfähig sein. In einer Woche sehen wir uns wieder. Dann geht es Ihnen besser. Ganz sicher.«
    Ich hatte, was ich wollte: eine erste Diagnose. Ein Medikament dagegen und die selbstgewisse Versicherung, dass es helfen würde. Trotzdem verließ ich die Praxis noch angespannter, als ich gekommen war.
    Der Verkäufer im Drugstore klärte mich noch einmal über die Nebenwirkungen des Medikamentes auf, doch ich war zu erschöpft, um mir alles zu merken.
    Zu Hause ging ich, ohne mir den Mantel auszuziehen, in die Küche, füllte ein Glas mit lauwarmem Wasser, holte die Arznei aus der Tasche und drückte eine Tablette aus der Packung.
    Nimm sie nicht! Lass es.
    Versuchen Sie, sie zu ignorieren.
    Sie wird dir nicht helfen.
    Das müssen Sie lernen. Hören Sie nicht hin.
    Tu es nicht.
    Was sie sagt, ist unwichtig.
    Ich legte die Tablette auf die Zunge, nahm einen großen Schluck Wasser.
    Kurz darauf überkam mich eine unendliche Müdigkeit. Ich legte mich angezogen aufs Bett und schlief sofort ein.

8
    S ie wollte nicht, dass er geht.
    Wollte es nie.
    Sie schrie. Stampfte vor Wut mit den Füßen. Vor Angst. Warf sich auf den Boden. Weinend.
    Er hob sie hoch. Und immer höher. Sodass sie fast unter der Deckenlampe schwebte und auf ihn hinabschauen konnte. Schwerelos vor Glück. Bis es klingelte. Der Fahrer wartete.
    Er hielt sie im Arm. Flüsterte ihr ins Ohr, tröstete sie mit seiner melodischen Stimme. Dann stellte er sie ab, nahm seine Sachen und ging. Trotz aller Worte.
    Jeder Trost war ein Verrat.
    Einmal versteckte sie den Hut, den er jeden Tag trug, wenn er die Tür hinter sich schloss.
    Ohne Hut würde er das Haus niemals verlassen. Er suchte überall, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, auch wenn die Zeit drängte. Aufgeregt beobachtete sie jede seiner Bewegungen, folgte ihm von Raum zu Raum. Mit rasendem Herzen sah sie, wie er sich dem Versteck näherte, wie er ihn fand und lachend aufsetzte. Er hatte es für einen Streich gehalten.
    Beim nächsten Mal wählte sie ein besseres Versteck. Eines, das er niemals entdecken würde. Er suchte vergeblich. Und nahm einen anderen. Er besaß vier. Das hatte sie nicht gewusst.
    Mutter und Bruder lachten über sie. Warum sie denn ein solches Theater mache? Er kommt doch wieder.
    Woher wussten sie das?
    Er war weg. Verschluckt von einer Welt, zu der sie nicht gehörte. Unerreichbar.
    Er kommt doch wieder. Wie konnten sie da so sicher sein?
    Manchmal lief sie, kaum war die Tür ins Schloss gefallen, in ihr Zimmer im ersten Stock. Erklomm die steilen Stufen in allerhöchster Eile. Rannte den Flur entlang, rutschte aus, stürzte, sprang auf, sich die Tränen über die schmerzenden Knie für später aufsparend, jagte mit ihren viel zu kurzen Beinen durch ihr Zimmer ans Fenster.
    Manchmal hatte sie Glück. Dann drehte er sich noch einmal um und entdeckte sie zwischen den Gardinen. Winkte und formte den Mund zu einem Kuss.
    An den meisten Tagen sah sie nur noch die Rücklichter der Limousine.
    Er kommt doch wieder. Woher nahmen sie ihre Gewissheit?
    Es wäre nur eine Phase, trösteten sich die Eltern. Sie würde vorübergehen. Wie alle Phasen. Wie alles.
    Sie behielten recht. Irgendwann ertrug sie die Abschiede. Irgendwann ergab sie sich der Illusion, dass ein Wiedersehen eine Selbstverständlichkeit sei.
    Älterwerden nannten sie es.
    Keine Wunde fürs Leben. Aber eine erste Ahnung davon.

9
    I

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