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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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So etwas kann ganz plötzlich in sehr belastenden Schwellensituationen auftreten, in kritischen Phasen des Übergangs. Bei Jugendlichen zum Beispiel, wenn sie ihr Elternhaus verlassen. Bei Jobwechseln. Umzügen. Der Tod eines Angehörigen kann wie gesagt ein Auslöser sein. Hat es in den vergangenen Monaten irgendetwas gegeben, das Sie außergewöhnlich belastet hat?«
    Ich zögerte kurz. »Nein.«
    »Ich kann zu diesem Zeitpunkt auch eine Form der Schi zophrenie nicht ausschließen. Aber so, wie Sie die Stimme beschreiben, glaube ich das eigentlich nicht. Um eine solche Diagnose mit einer größeren Sicherheit stellen zu können, muss ich mehr über Sie wissen und den weiteren Verlauf verfolgen. Wir werden sehen.«
    Er sah die Angst in meinen Augen und fügte hinzu: »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Selbst wenn es so wäre, haben wir dagegen Medikamente. Gibt es in Ihrer Familie noch andere psychische Erkrankungen?«
    »Meine Mutter leidet an Depressionen.«
    »Schon lange?«
    »Seit ich mich erinnern kann.«
    »Sie auch?«
    »Nein.«
    »Ihre Brüder?«
    »Nein.«
    Er nickte nachdenklich und machte sich ein paar Notizen. »Gibt oder gab es, soweit Sie wissen, in Ihrer Verwandtschaft noch jemanden, der Stimmen hört?«
    »Mein Vater konnte Herzen hören«, antwortete ich spontan, ohne darüber nachzudenken.
    Dr. Erikson lachte. Er hielt es für einen Scherz.
    Ich wollte mich von ihm nicht beirren lassen, er hatte gefragt, nun sollte er die Antwort bekommen: »Er wurde in Bur ma geboren, sein Vater starb früh, seine Mutter verließ ihn, weil sie überzeugt war, dass er Unglück brachte. Er wurde von einer Nachbarin großgezogen. Im Alter von acht Jahren er blindete er. Dafür entdeckte er die Gabe des Hörens. Er konnte Vögel am Ton ihres Flügelschlages erkennen. Er wusste, wenn irgendwo eine Spinne an einem Netz webte, weil er den Klang vernahm.« Ich machte eine Pause, um zu sehen, wie der Arzt reagierte. Er starrte mich mit ungläubigen Augen an, nicht sicher, ob ich ernst meinte, was ich ihm erzählte. Mir gefiel seine Verwirrung, und ich fuhr fort:
    »Und er konnte, wie gesagt, auch Herzen hören.«
    »Herzen hören?«, wiederholte Dr. Erikson, als wolle er sich versichern, dass er mich richtig verstanden hatte.
    »Ja. Mein Vater erkannte die Menschen an ihrem Herzschlag und fand heraus, dass jedes Herz anders klingt und dass die Herztöne, ähnlich wie Stimmen, Aufschluss geben über das Befinden der Person. Er verliebte sich in ein junges Mädchen, weil er nie zuvor ein so schönes Geräusch gehört hatte wie das Pochen ihres Herzens.«
    »Sehr interessant«, sagte er mit sorgenvoller Miene. »Haben Sie noch andere Phantasien, oder sehen Sie manchmal Dinge, die andere nicht wahrnehmen können?«
    »Dieses Mädchen«, erzählte ich unbeirrt weiter, »hieß Mi Mi. Sie war wunderschön, konnte jedoch nicht auf ihren Beinen laufen, weil ihre Füße nach innen gewachsen waren. Deshalb trug mein Vater sie auf seinem Rücken. Er wurde zu ihren Beinen, sie zu seinen Augen, wenn Sie verstehen, was ich meine?«
    Dr. Erikson nickte. »Natürlich verstehe ich, was Sie meinen, Frau Win.«
    »Später gewann er durch eine Operation sein Augenlicht zurück, verlor jedoch die Gabe des besonderen Hörens. Er wurde nicht taub, aber sein Gehör war nicht mehr so außerordentlich sensibel.«
    »Und Sie«, fragte er vorsichtig. »Können Sie auch Herzen hören?«
    »Leider nicht.«
    Dr. Erikson schaute auf die Uhr. Die Skepsis in seinem Gesicht.
    Was willst du hier?
    Der Moment, vor dem ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte.
    – Sei ruhig, befahl ich ihr.
    Was willst du von diesem Mann?
    – Hilfe. Ich brauche Hilfe.
    Du brauchst keine Hilfe.
    – Doch.
    Dieser Mann kann dir nicht helfen.
    – Warum nicht?
    Weil er kein Wort verstanden hat von dem, was du ihm eben erzählt hast. Er glaubt, dass man mit den Augen sieht. Wie soll er dir helfen können?
    – Woher weißt du das?
    Das sieht man doch.
    »Was ist mit Ihnen?«
    »Was soll sein?«
    »Sie sind ganz blass geworden. Ihre Lippen zucken. Hören Sie die Stimme jetzt?«
    Ich nickte.
    »Was sagt sie?«
    »Dass ich keine Hilfe brauche.«
    Ein wissendes Lächeln flog über sein Gesicht. »Noch etwas?«
    »Dass Sie mir nicht helfen können.«
    »Warum nicht? Verrät sie Ihnen das auch?«
    Sag es ihm nicht. Er versteht dich nicht.
    Ich überlegte kurz. »Nein, das tut sie nicht.«
    »Das habe ich mir gedacht. Die Stimme in Ihnen fühlt sich bedroht von mir. Es ist eine

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