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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Kopf. Zwischen Amy und mir genügte ein Blick, ein paar Minuten später saßen wir in meinem Zimmer.
    Sie war mit einer Tasche gekommen und hatte ein geheimnisvolles Gesicht gemacht. Aus der Tasche holte sie eine Kerze, zwei kleine Gläser, einen Korkenzieher und eine Flasche Wein.
    »Ist das erlaubt?«, fragte ich überrascht. Die Rechtsanwältin.
    Amy lächelte und hielt einen Finger vor den Mund.
    Sie zündete die Kerze an, löschte das Licht, öffnete leise die Flasche, schenkte uns ein und setzte sich zu mir aufs Bett.
    »Der Buddha sagt: ›Der Unreife, der weiß, dass er unreif ist, verfügt über ein wenig Weisheit.‹«
    »Er sagt auch, dass man keinen Alkohol trinken soll, glaube ich. Oder macht uns das Trinken von Wein zu Weisen?«
    Sie nickte verschwörerisch.
    »Bist du nun Buddhistin oder nicht?«
    »Fast.«
    »Was heißt ›fast‹?«
    »Der Buddha sagt: ›Leben heißt Leiden.‹«
    »Und?«, fragte ich gespannt.
    Sie beugte sich weit zu mir vor und flüsterte: »Der Meister irrt: Leben heißt Lieben.«
    »Das schließt sich ja nicht aus«, erwiderte ich. »Oder bedingt es sich nicht sogar?«
    »Unsinn. Wer wirklich liebt, leidet nicht«, widersprach sie, noch immer flüsternd. Flüsternder.
    »So ein Quatsch.«
    »Kein Quatsch. Glaub mir.«
    Sie lehnte sich zurück, lächelte und hob ihr Glas ein wenig. »Auf die Liebenden.«
    »Und die Leidenden.«
    Ich wollte das Gespräch nicht vertiefen und fragte, ob sie den alten Mönch mit seiner viel zu großen Brille während der Meditation bemerkt hatte.
    Amy schüttelte den Kopf. »Aber die Nonne hat mir gesagt, dass sie einen Mönch aus Burma zu Gast haben.«
    »Was hat sie über ihn erzählt?«, fragte ich in der Hoffnung, mehr über ihn zu erfahren.
    »Er ist wohl schon sehr alt und soll in Burma ein hochgeachteter Mönch sein, der viele Anhänger hat. Angeblich kamen die Menschen aus dem ganzen Land zu ihm gereist und baten in schwierigen Lebenslagen um seinen Rat. Er musste fliehen, warum, weiß ich nicht. Er ist seit vier Wochen hier und wohnt zurückgezogen in einer kleinen Hütte etwas tiefer im Wald. Man sieht ihn wenig, an den gemeinsamen Meditationen nimmt er normalerweise nicht teil, hat sie gesagt. Erstaunlich, dass er ausgerechnet heute dazukam.«
    Eine Weile blickten wir schweigend in den Schein der Kerze.
    »Was sagt die Stimme zu unserem Ausflug?«
    »Sie schweigt.«
    »Habe ich nicht gesagt, dass dir die Abgeschiedenheit guttun würde? Du solltest viel öfter auf mich hören.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob es an der Abgeschiedenheit liegt.«
    »Woran sonst?«
    »Vielleicht … ich weiß es auch nicht.«
    »Warten wir es ab. Willst du morgen zurück, oder bleiben wir noch ein bisschen?«
    Ich nickte. Wir stießen an, leise, wie zwei Verschwörerinnen.
    In der Nacht hatte es gefroren. Eine dünne Schicht Raureif bedeckte den Rasen. Das Haus war leer, die anderen waren bereits zur ersten Meditation gegangen. Ich sah ihre Fußabdrücke auf der Wiese. Mit jedem Schritt hinterlassen wir Spuren.
    Ich zog mich an und trat hinaus. Kalte, klare Luft. Es roch nach Winter. Die kahlen, dünnen Bäume sahen aus wie Stangen, die ein Riese in die Erde gerammt hatte.
    Die aufgehende Sonne, ein rot gefärbter Himmel.
    Ich hatte überhaupt keine Lust, mich wieder durch eine Meditation zu quälen, lieber wollte ich einen Spaziergang machen. Ein deutlich markierter Pfad führte vom Haus weiter in den Wald.
    Ein Bach. Die ersten Eiszapfen an Stöckchen, die aus dem Wasser ragten.
    Das Knacken der Zweige unter meinen Füßen.
    Warum sind wir hier?
    Keine Freude, sicher nicht. Aber eine seltsame Erleich terung.
    – Weil ich Antworten suche.
    Auf welche Fragen?
    – Warum ich dich höre. Woher du kommst.
    Sie schwieg.
    – Wo warst du so lange?
    Keine Reaktion.
    – Was ist mit dir?
    Ich will hier weg.
    – Warum?
    Ich habe Angst, erwiderte sie flüsternd .
    – Wovor?
    Ich ersticke vor Angst. Hilf mir.
    Nichts erinnerte mehr an ihren fordernden, drängenden Ton, mit dem sie mich in New York traktiert hatte. Sie klang bedürftig und schwach.
    – Wovor hast du Angst?
    Ich weiß es nicht. Sie machte eine lange Pause. Vor Stiefeln. Schwarzen Stiefeln. Gewienert. Blank, dass sich meine Angst in ihnen spiegelt.
    – Wessen Stiefel?
    Die Stiefel des Todes.
    – Wer trägt sie?
    Die Boten.
    – Welche Boten?
    Die Boten der Angst.
    – Wer schickt sie?
    Schweigen.
    – Was erinnerst du noch?
    Weiße Pagoden. Rote Flecken. Überall. Auf der Erde. Auf dem Holz. Roter

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