Herzenstimmen
noch einmal, immer wieder erstaunt, wie gut Amy mich kannte.
»Schade, dass er nicht etwas jünger ist«, sagte sie und grinste.
Am nächsten Morgen erwachte ich noch vor Sonnenaufgang. Am liebsten wäre ich sofort zu dem alten Mönch gegangen, wartete jedoch, bis alle im Haus auf dem Weg zur Meditationshalle waren. Dann stand ich auf, zog mich an und ging los.
»Kommen Sie herein, setzen Sie sich«, sagte er, nicht im Geringsten überrascht, mich wiederzusehen. »Oder legen Sie sich hin, wenn Sie nicht sitzen möchten.«
Ich zog die Schuhe aus und legte mich ausgestreckt auf den Boden. Erst jetzt merkte ich, wie kalt mir war und dass ich am ganzen Körper zitterte. Er breitete eine Decke über mir aus, hockte sich direkt hinter mich, legte seine Hände kurz auf meine Schläfen und schob sie dann wie ein flaches Kissen sanft unter meinen Kopf. Sie waren wunderbar warm. Ich schloss die Augen. Mein Atem beruhigte sich, das Zittern verschwand, mich überkam ein Gefühl der Gelassenheit, wie ich es zuvor nur bei meinem Bruder U Ba erlebt hatte. Als würde ich alles in die Hände dieses alten Mannes legen. Das Gewicht meiner ganzen Welt.
»Was ist mit Ihnen?«
Manchmal genügt eine Frage.
Und so begann ich zu erzählen. Von einer übergroßen Liebe und meiner Sehnsucht danach. Von ungelebten Leben. Von Schmetterlingen, die man an ihrem Flügelschlag erkennt. Von dem Buch der Einsamkeit und seinen vielen Kapiteln. Von einem Versprechen, streichholzgroß. Von den mächtigen Flügeln der Lüge, die den Himmel verdunkelten, bis er schwarz war. Von den vielen Farben der Trauer. Und denen der Furcht. Von der Stimme und ihren Fragen. Und meinen. Von meiner Angst vor ihr. Und vor mir.
Ich spürte, wie mir die Tränen in Strömen über die Wangen liefen. Wie sie hochspülten, was ich für immer für vergraben geglaubt hatte.
Er sagte nichts.
Ich wusste, dass er jedes Wort verstand. Als ich geendet hatte, strich er mir mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht und dann zärtlich über die Stirn. Seine Finger hatten die weiche Haut eines Kindes.
»Ihnen ist etwas Außergewöhnliches widerfahren. In meinem langen Leben habe ich nur einmal zuvor von diesem seltenen Phänomen gehört.« Er sprach langsam und ruhig, trotzdem hatte seine Stimme plötzlich etwas Drängendes. »Sie wissen, dass wir Buddhisten an die Wiedergeburt glauben. Der Körper stirbt, unsere Seele, wenn wir es so nennen wollen, lebt weiter. Sie entweicht dem Leichnam und schlüpft in ein neugeborenes Wesen. Wir nennen diesen Vorgang Reinkarnation. Das Karma aus dem vorherigen Leben bestimmt das zukünftige. Haben Sie Gutes getan, wird Ihnen auch irgendwann Gutes widerfahren. Haben Sie sich an den Menschen vergangen, wer den Sie die Konsequenzen zu tragen haben. Nichts geht ver loren. Manche Buddhisten denken, dass Menschen mit schlech tem Karma auch als Affen oder Läuse wiedergeboren werden können. Das glaube ich nicht.«
Der Mönch machte eine Pause. Er sprach in Rätseln. Ich hatte keine Ahnung, was seine Worte andeuteten oder mit mir zu tun haben sollten.
»In Ihrem besonderen Fall ist etwas.« Er stockte. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen beschreiben kann, ohne dass Sie mich für einen verwirrten alten Geschichtenerzähler halten.«
Er schwieg eine Weile. »In diesem Prozess der Wandlung ist, um es ganz einfach auszudrücken, bei Ihnen etwas schiefgegangen. Ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären.«
Er stand auf, legte noch ein Holzscheit in den Ofen, setzte sich wieder neben mich.
»Sie hören eine weibliche Stimme?«
»Ja.«
»Sie erinnert sich an weiße Pagoden und rote Flecken auf der Erde? Sie hat Angst vor schwarzen Stiefeln?«
»Ja.«
»Gestern hat sie Satzfetzen in einer fremden Sprache gesprochen. Es klang wie Thay hsone thu mya, a hti kyan thu mya a thet shin nay thu mya san sar yar kywn go thwa mai. Habe ich Sie richtig verstanden?«
»So ähnlich klang es, ja.«
»Das ist burmesisch. Es heißt ›Die Insel der Toten. Die Insel der Liebenden. Der Einsamen‹. Nach allem, was Sie von der Stimme erzählen, von dem, was sie weiß und was sie nicht weiß, vermute ich, dass sie in Burma gelebt hat. Sie muss eine rastlose Seele gewesen sein. Ein geplagter Mensch, dessen Geist nach dem Tod nicht zur Ruhe kam, sondern bei Ihnen Zuflucht fand. Das bedeutet, dass in Ihrem Körper nun zwei Seelen leben.«
Ich richtete mich abrupt auf. Das Staunen in seinen Augen. Die Zweifel in meinen.
»Zwei Seelen?«, fragte ich.
»Ja.«
»Das
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