Herzenstimmen
Saft, der aus Mündern rinnt. Und alles färbt. Meine Gedanken. Meine Träume. Mein Leben.
– Blut? Erinnerst du dich an Blut?
Er tropft mir aufs Gesicht. In die Augen. Er brennt. Oh, wie er brennt.
Sie schrie kurz auf. Ich zuckte zusammen.
– Was ist passiert?
Es tut weh. So weh.
– Was tut weh?
Die Erinnerung.
– Welche Erinnerung? Wo kommst du her?
Aus einem Land, das du gut kennst.
– Woher genau?
Von der Insel.
– Welcher Insel?
Thay hsone thu mya, a hti kyan thu mya a thet shin nay thu mya san sar yar kywn go thwa mai.
– Was hast du gesagt?
Sie wiederholte die seltsamen Laute.
– Welche Sprache ist das?
Ich kann nicht mehr. Bitte hilf mir.
– Wie kann ich dir helfen?
Geh fort von hier. Ich will nicht zurück.
– Zurück? Wohin?
Auf die Insel.
– Wir fahren auf keine Insel.
Doch. Unser Weg führt geradewegs dorthin.
– Ich verstehe nicht, was du mir sagst. Du musst mir mehr erklären.
Sie schwieg wieder.
– Geh nicht weg, bleib hier. Versuch dich zu erinnern.
Keine Antwort.
Wie sollte ich die Bruchstücke ihrer Erinnerungen entschlüsseln? Ein Land, das ich kenne? Stiefel des Todes? Boten der Angst? Was konnte sich dahinter verbergen? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung.
Zwischen den Bäumen tauchte plötzlich eine kleine Hütte auf. Es war ein Blockhaus aus dunkelbraunen Holzbalken und hatte die Form eines A, an beiden Seiten reichte das Dach hinunter bis auf den Boden. Auf der Veranda hing eine Mönchskutte über einer Leine. Aus dem Schornstein stieg schlohweißer Qualm. Ohne zu zögern ging ich darauf zu.
Als hätte mich jemand gerufen.
Durch das große Verandafenster sah ich den Mönch von gestern. Er saß in der Mitte des Raums auf einer Tatamimatte und las in einem Buch. In einem Ofen hinter ihm loderte ein Feuer.
Ich klopfte und öffnete die Tür, ohne auf eine Antwort zu warten.
Er blickte auf und legte das Buch zur Seite.
»Wie schön, Sie zu sehen«, sagte er mit einem deutlich britischen Akzent. »Kommen Sie herein.«
Ich zog die Schuhe aus, betrat das Haus, schloss die Tür. Unsicher stand ich ihm gegenüber. Was wollte ich hier?
»Kommen Sie näher. Setzen Sie sich doch.« Er deutete mit einer Handbewegung auf den Boden vor sich.
Ich zögerte verlegen.
Wir schwiegen. Er beherrschte die Kunst des Wartens.
Irgendwann machte ich ein paar Schritte auf ihn zu und setzte mich.
»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte ich ihn unsicher.
Er schmunzelte. »Ich bin ein Mönch und kein Hellseher.«
Wir schwiegen wieder. Das Knistern des brennenden Holzes. Er beobachtete mich. Ein Blick, in dem nichts Forderndes lag. Allmählich bekam ich das Gefühl, in diesem Raum anzukommen.
»Sie kommen aus Burma?«
Der alte Mönch nickte.
»Mein Vater auch.«
Er nickte erneut.
»Ich habe gehört, in Burma kommen die Menschen zu Ihnen, wenn sie einen Rat brauchen.«
»Zuweilen, ja.«
»Wie können Sie ihnen helfen?«
»Ich höre mir ihre Geschichten an und erinnere sie.«
»Woran?«
»An ein paar Wahrheiten, die wir alle kennen, aber manchmal vergessen.«
»Welche Wahrheiten?«
»Sie haben es sehr eilig.«
»Ist das schlimm?«
»Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Haben Sie schon einmal meditiert?«
»Ja, gestern. Neben Ihnen«, erwiderte ich irritiert.
»Da haben Sie still gesessen und nichts getan. Das ist nicht dasselbe.«
»Woher wissen Sie das?«
Er lächelte. »Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen.«
»Wobei?«
»Zur Ruhe zu kommen.«
Ich hatte ihm nichts entgegenzusetzen.
Er rutschte näher an mich heran, bis er direkt vor mir saß. Knie an Knie. Er tat nichts, außer wieder geduldig zu warten. Hinter ihm loderte das Feuer im Ofen. Er gab mir das Gefühl, alle Zeit dieser Welt zu haben, mein viel zu schneller Atem beruhigte sich allmählich. Er nahm meine kalten Hände, die ich ihm bereitwillig überließ. Als hätte ich nur darauf gewartet. Er betrachtete sie lange von beiden Seiten. Ich ließ es geschehen und schloss die Augen. Hörte seinen gleichmäßigen Atem. Spürte seine warmen Finger. Seine faltige, weiche Haut. Das Gefühl zu fallen. Wie ein Blatt, das aus großer Höhe langsam zu Boden segelt. Ohne Hast. Unaufhaltsam. Gelassen seinem Schicksal folgend.
Er hielt meine Hände. Und mich.
Ich verlor jedes Zeitgefühl.
Als ich zum Gästehaus zurückkehrte, räumte Amy gerade den Frühstückstisch ab.
»Wo warst du?«
»Im Wald«, sagte ich spontan.
»Meditieren?«
Ich nickte.
»Bei dem alten Mönch?«
Ich nickte
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