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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Griffe.
    Ich spürte, wie mich der Fahrer durch den Rückspiegel beobachtete.
    »Ist Ihnen kalt, Miss?«
    »Ein wenig«, erwiderte ich.
    Er nickte. Für ein paar Sekunden verlangsamte er das Tempo, nur um es nach der nächsten Kurve wieder aufzunehmen.
    »Wohin darf ich Sie fahren in Kalaw, Miss?«
    »Gibt es das Kalaw Hotel noch?«
    »Selbstverständlich.«
    »Dann dorthin.«
    Unsere Blicke trafen sich im Spiegel. Er wackelte leicht mit dem Kopf und lächelte. Seine Zähne und Lippen waren vom Kauen der Betelnüsse blutrot gefärbt. »Wenn Miss es wünscht, könnte ich Ihnen noch andere Hotels empfehlen.«
    »Was spricht gegen das Kalaw Hotel?«
    Er schwieg einen Moment. »Nichts. Es ist nur so, Miss, dass wir Einheimischen dort nicht gern übernachten würden.«
    »Warum nicht?«
    »Es heißt, dort gäbe es Gespenster.«
    Ich hätte es ahnen können. »Was für Gespenster?«, fragte ich leicht seufzend.
    »Oh, das ist eine sehr traurige Geschichte. Das Hotel hat während des Krieges als Lazarett gedient. Unglücklicherweise sind dort einige Engländer verstorben. Ihre Geister sollen noch immer im Haus herumirren.«
    »Ich glaube nicht an Gespenster. Oder haben Sie schon einmal eines gesehen?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Sehen Sie.«
    »Ich übernachte ja auch nicht im Kalaw Hotel.« Er wackelte wieder mit dem Kopf und lächelte.
    »Haben Sie schon einmal mit jemandem gesprochen, der eines gesehen hat?«
    »Nein, Miss. Meine Kunden schlafen dort nicht.«
    »Ich habe schon einmal zwei Wochen in dem Hotel gewohnt. Mir sind keine Gespenster begegnet.«
    Ich vermutete, dass er von anderen Hotels eine höhere Provision bekam, und ließ es dabei bewenden.
    Wir fuhren durch eine hügelige, mit Mühsal bewirtschaftete Landschaft. Nicht weit von der Straße entfernt pflügte ein Mann mit einem Wasserbüffel ein Feld. Es musste vor Kurzem noch geregnet haben, die Erde war glitschig, Mensch und Tier voller Schlamm. Der ausgemergelte Büffel trottete durch den Matsch, der Bauer, nur mit einem durchnässten Longy bekleidet, lenkte mit ganzer Kraft den Pflug. Beide sahen aus, als würden sie jeden Moment zusammenbrechen.
    Einige Hundert Meter entfernt glänzte eine goldene Stupa in der Sonne. Auf den Hügeln, den Feldern, zwischen Bäumen oder in Bambushainen versteckt sah ich Pagoden, kleine Klöster oder Tempel liegen.
    Einmal hielten wir abrupt, weil zwei störrische Ochsen mit ihrem Gespann den Weg versperrten.
    Gut eine Stunde später bogen wir in die Einfahrt des Kalaw Hotel. Der Fahrer hielt vor dem Eingang, holte meinen Ruck sack aus dem Kofferraum, gab mir eine Karte mit seinem Namen und einer Adresse, falls ich es mir noch einmal überlegen sollte und eine andere Unterkunft benötigte, wünschte mir einen schönen Aufenthalt in Kalaw und fuhr davon. Von den Angestellten des Hotels hatte sich noch niemand blicken lassen.
    Die Tür stand weit offen, ich stieg die wenigen Stufen hinauf und betrat mit Herzklopfen das Haus. Ein Blick auf die Rezeption genügte, und meine Erinnerungen kehrten zurück. Die Uhren an der Wand, die die Zeiten in Bangkok, Paris, Tokio, New York und Myanmar anzeigten und allesamt falsch gingen. Der Putz, der von den Wänden blätterte, wie Haut nach einem Sonnenbrand. Die Schlüsselfächer, in denen ich nie einen Schlüssel hatte liegen sehen. Auch jetzt nicht. Das kalte Neonlicht. Blank polierte Dielen. Gelbe Vorhänge, die sich behäbig im Wind bewegten.
    Ein Gefühl der Heimkehr. Als hätte ich in diesem Hotel Jahre meines Lebens verbracht.
    »Hallo«, rief ich, bekam aber keine Antwort.
    In einem Nebenraum lief ein Fernseher, auf der Bank davor lag ein schlafender junger Mann.
    »Hallo«, wiederholte ich laut und klopfte an den Türrahmen. Der junge Mann erwachte und schaute mich überrascht an. Ein Gast war offenbar das Letzte, womit er gerechnet hatte.
    Mein Zimmer, das 101, hatte sich nicht verändert.
    Weiß gekalkte Wände, ein großer Raum mit hohen Decken, zwei Betten, dazwischen ein kleiner Nachttisch, vor dem Fenster ein Tisch und zwei Sessel, selbst der koreanische Minikühlschrank stand noch an seinem Platz. Er funktionierte noch immer nicht.
    Die junge Frau an der Rezeption war sehr freundlich, sie sprach ein paar Brocken Englisch, U Ba kannte sie nicht.
    Ich machte mich auf die Suche nach dem Teehaus, in dem ich meinem Bruder zum ersten Mal begegnet war. Dort würde man mir mit Sicherheit sagen können, wo er lebte. Ich ging die Straße hinunter, die vom Hotel in die Mitte des

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