Herzenstimmen
diesem Markttag war sie ganz mit ihrer kleinen Schwester beschäftigt. Khin Khin hatte hohes Fieber und ruhte erschöpft neben ihr unter dem Sonnenschirm. Vor ihnen lagen, ordentlich zu kleinen Stapeln aufgetürmt, die Erträge der Arbeit ihres Vaters: Tomaten, Auberginen, Ingwer, Blumenkohl und Kartoffeln. Es war heiß, Nu Nu tunkte alle paar Minuten einen Lappen in eine Schüssel mit lauwarmem Wasser, wrang ihn aus und legte ihn der Schwester auf die Stirn. Als diese eingeschlafen war, wollte sie schnell mehrere Kilo bestellte Tomaten in ein nahe gelegenes Restaurant bringen. In der Eile stolperte sie, verlor einen Moment das Gleichgewicht, der Korb mit dem Gemüse rutschte ihr vom Kopf, und sie sah, wie die roten Tomaten in alle Richtungen über den Weg, ins hohe Gras und tief unter die Büsche rollten. Auf allen vieren kroch sie hinterher. Als sie zum Korb zurückkehrte, war er wieder gefüllt, daneben stand ein junger Mann und lächelte verlegen. Er schaute sie an und blickte dann scheu zu Boden.
Es war dieses Lächeln, das sie nicht vergessen würde. Warm und herzlich, aber mit einer Ahnung, dass nicht jedes Gefühl der Traurigkeit einen Grund brauchte.
Vielleicht hätte sie ihm in der Sorge um ihre Schwester trotzdem nur schnell gedankt und keine weitere Beachtung geschenkt, wenn sie in den Tagen zuvor nicht mehrere ungewöhnliche Dinge beobachtet hätte.
Nu Nu fragte sich, wie Menschen in dem Glauben leben konnten, dass es außerhalb dessen, was sie direkt mit ihren Sinnen wahrnahmen, nichts Wirkliches gab. Sie war überzeugt, dass Kräfte existieren, die wir zwar nicht kennen, die aber trotzdem auf uns wirken und uns hin und wieder Zeichen senden. Man musste sie nur sehen und deuten können. Nu Nu studierte ausgiebig die Konturen der Bananenstauden oder Papayabäume in der Dämmerung, die Umrisse des Qualms, der vom Feuer aufstieg, oder die Beschaffenheit der Wolken. Viele Stunden verbrachte sie damit, in den Himmel zu blicken, ihre Formationen zu beobachten und zu interpretieren. Sie war fasziniert von der Flüchtigkeit, mit der sie entstanden, dass sie fortwährend ihre Gestalt veränderten, geformt von einer unsichtbaren Hand, nur um nach ein, zwei kurzen Momenten wieder in der unend lichen Weite, aus der sie gekommen waren, zu verschwinden.
Sie bedauerte jeden, der darin nichts als Wolken sah, die lediglich auf gutes oder schlechtes Wetter hinwiesen. Nu Nu erkannte in ihnen Affen und Tiger, gefräßige Mäuler, zerbrochene Herzen, weinende Gesichter.
In der vergangenen Woche hatte sie am Himmel gleich mehrere Elefanten gesehen, Sinnbilder für Kraft und Stärke. Vor einigen Tagen hatte sich urplötzlich eine große, weiße Wolke genau über ihr zu einem Vogel geformt, sie sah darin eine Eule, ein Symbol für Glück, die ihre Flügel ausbreitete. Für Nu Nu ein deutliches Zeichen, dass jemand oder etwas aus größerer Entfernung auf sie zukam.
Gestern hatte sie auf dem Feld einen faustgroßen Stein mit einer ganz sonderbaren Form gefunden. Sie hatte ihn gedreht, gewendet, und je nachdem, wie sie ihn hielt, erinnerte er sie an etwas anderes. Es konnte ein Trichter sein. Eine Stupa. Oder, mit etwas Phantasie, ein Herz. Sie war sich nicht sicher, was er wirklich darstellte.
Heute stand Maung Sein vor ihr.
Er war aus einer entlegenen Provinz gekommen, um einem Onkel einige Monate lang bei der Rodung eines Ackers zu helfen.
Sie fragte, ob er die Tomaten zum Restaurant bringen könne, da sie nach ihrer fiebernden Schwester schauen müsse, beschrieb ihm die Lage ihres Gemüsestandes und bat ihn, ihr das Geld vorbeizubringen.
Er schulterte den Korb, ohne ein Wort zu sagen.
Als er zum zweiten Mal vor ihr stand, fielen ihr seine großen Hände auf.
Er reichte ihr einen Kyatschein und ein paar Münzen und fragte, ob er noch irgendwie behilflich sein könnte.
Ja, sagte sie, ohne zu zögern. Ihre kleine Schwester sei krank. Wenn er ihr helfen würde, sie in einigen Stunden nach Hause zu bringen, wäre sie ihm sehr dankbar. Vielleicht könnte er, wenn sich der Markt dem Ende neige, wiederkommen?
Ihm würde es auch nichts ausmachen, hier so lange zu warten, erwiderte Maung Sein. Natürlich nur, wenn sie es ihm gestatte. Er wolle nicht zur Last fallen.
Nu Nu nickte überrascht.
Er hockte sich unter den Sonnenschirm zu Füßen ihrer schlafenden Schwester, während sie Khin Khins Kopf im Schoß hielt.
Maung Sein bot an, neues, kälteres Wasser zu holen, sie lehnte dankend ab, es wäre ohnehin schnell
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