Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
Vom Netzwerk:
fünf Züge bis zum rettenden Ufer. Und näher. Noch vier. Und näher. Noch drei. Als das Krokodil sein großes Maul aufriss, um sie zu verschlingen, erwachte sie. Schwitzend. Atemlos vor Angst.
    Die Eltern lachten, als sie ihnen die Geschichte erzählte. Du Dummerchen. In den Shan-Staaten gibt es doch gar keine Krokodile. Lange fürchtete Nu Nu sich vor dem Einschlafen, weil sie Angst vor dem Traum hatte.
    Das Gefühl des Fremdseins änderte sich auch nicht, als mit den Jahren noch zwei Brüder und eine Schwester hinzukamen. Sie hatten die wohltemperierten Gemüter ihrer Eltern geerbt.
    Fünf ruhige Geister und ein gequälter. Mit roten Pusteln.
    Vielleicht war das der Grund, warum Nu Nu sich schon so früh nach einer eigenen Familie sehnte. Sie träumte nicht von einem Haus aus Stein. Nicht von einem Dach, das nicht leckte. Nicht von einer Reise in die Provinzhauptstadt. Ihr einziger Wunsch war es, einen Mann zu finden und ein Kind mit ihm zu haben. Ihr Kind. Sie würde es neun Monate lang in sich tragen. Sie würde es gebären. Sie würde es nähren und beschützen. Ein Teil von ihr, auch nach der Geburt.
    Seelenverwandt.

3
    N u Nu war siebzehn, als der erste junge Mann vorstellig wurde und fragte, ob sie ihn heiraten möchte. Sie war eine schöne junge Frau geworden, nach der sich die Männer aus den anderen Dörfern auf dem Markt umdrehten und der die Jungs auf dem Feld schüchterne und zugleich begehrende Blicke zuwarfen. Sie war schlank, hochgewachsen und hielt sich trotz ihrer Größe stets aufrecht, selbst wenn sie eine schwere Last auf dem Kopf balancierte. Ihr Gesicht war wohlgeformt, eine ungewöhnlich hohe Stirn, kräftige, tiefrote Lippen und große, sehr wache, sehr braune Augen.
    Der junge Mann machte ihr die Entscheidung nicht leicht. Er war nicht nur höflich und bescheiden, er besaß auch die schönsten und zugleich traurigsten Augen, die sie je gesehen hatte. Sie waren im Dorf zusammen aufgewachsen und hatten sich schon als Kinder sehr gemocht. Er war einen halben Kopf kleiner als Nu Nu, und weil sein linkes Bein etwas kürzer war als das rechte, humpelte er. Auch er war häufig allein. Wenn die Jungs am Abend in der Dämmerung vom Feld kamen, hinkte er mit einigem Abstand hinterher. Wenn sie Fußball spielten, wartete er geduldig, bis die Mannschaften gebildet waren, und wenn ihn keiner wählte, saß er am Spielfeldrand und hoffte, dass jemand die Lust verlieren würde und er für ihn mitspielen durfte.
    Er war der Einzige, dem sie von unsichtbaren Wänden erzählte. Von plötzlich heraufziehenden Finsternissen. Von toten Schmetterlingen am Wegesrand. Von ihrer Angst vor erlöschenden Feuern.
    So wie er sie dabei anschaute, wie er ihr zuhörte, hin und wieder eine Frage stellte, spürte sie, dass er etwas von gequälten Geistern verstand.
    Von warmen Händen. Die langsam erkalteten.
    Was Wesensverwandtschaft bedeutete.
    Und wie wichtig sie war.
    Oft tauschten sie nur Blicke aus und wussten, was der andere empfand.
    Als er sie bat, seine Frau zu werden, kamen ihr die Tränen.
    Sie ahnte, dass er bei einer Ablehnung nie wieder den Mut aufbringen würde, einer Frau diese Frage zu stellen. Sie zögerte. Wünschte sich Bedenkzeit bis zum nächsten Morgen und verbrachte, am Feuer sitzend, eine schlaflose Nacht, in der sie versuchte, Ordnung in ihr Herz zu bringen.
    Neben ihr schliefen fünf ruhige Geister. Keinen von ihnen konnte sie um Rat fragen.
    Als die Vögel den neuen Tag ankündigten, hatte sie sich entschieden.
    Die Liebe kannte viele Feinde. Mitleid war einer davon.
    Er war ein Freund, einen besseren würde sie nicht finden, ein Geliebter war er nicht.
    Auch der zweite junge Mann hatte keine Chance. Er war der Sohn des reichsten Reisbauern der angrenzenden Provinz und gekommen, weil er von Nu Nus Schönheit gehört hatte. Er sah gut aus, seine Höflichkeit beeindruckte ihre Eltern, aber sie wusste schon nach wenigen Minuten, dass er weder von grundloser Freude noch von grundloser Trauer etwas verstand. Wie sollte ihre Liebe wachsen, wenn es nichts gab, worin sie wurzelte?
    Maung Sein hätte sie beinahe übersehen.
    Nicht weil er klein von Wuchs gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Unter seinen Vorfahren musste ein Engländer gewesen sein, anders waren die helle Haut und vor allem die kräftige Statur nicht zu erklären. Maung Sein hatte ein breites Kreuz, außergewöhnlich muskulöse Oberarme und Hände so groß, dass ihr Kopf fast darin versank.
    Nu Nu mochte groß gewachsene Männer, aber an

Weitere Kostenlose Bücher