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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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ein kleiner Altar mit einem liegenden Buddha, davor etwas Reis und eine Vase, in der eine Blüte welkte. Über einem Häufchen glühender Holzkohlen hing ein Kessel, in dem Wasser kochte. Wir hockten uns auf eine Bastmatte, sie stellte drei Tassen vor uns hin, schenkte aus einer Thermoskanne Tee ein und ließ mich dabei nicht aus den Augen. Vermutlich stellte auch sie sich die Frage: Warum hat U Ba diese fremde Frau in meine Hütte gebracht?
    Mein Bruder begann in einem rhythmischen Singsang zu erzählen, wir hörten beide aufmerksam zu. Sie verstand die Worte, ich nur die Melodie seiner Stimme. Sie klang wie ein leidenschaftliches, wohlkomponiertes Plädoyer. Mal dringlich, fast fordernd, dann wieder bittend, zwischendurch fröhlich und leicht.
    Sie wackelte hin und wieder ungläubig mit dem Kopf, zog an ihrer Zigarre, machte kurze Bemerkungen, lächelte oder schaute mich erstaunt an. Als sein Lied endete, schüttelte sie entschieden den Kopf und lachte dabei.
    Mein Bruder ließ sich nicht beirren. Er sprach weiter, als wäre dies der zweite Satz, das Adagio, einer Komposition. Er redete leise, beugte sich vor, machte Pausen, ließ seine Worte klingen, flüsterte. Ihre Blicke trafen sich mehrmals, und keiner wich dem anderen aus.
    Sie war nachdenklich geworden, runzelte die Stirn, ließ ihre Zigarre erlöschen, schaute mich lange an. Als U Ba verstummte, nippte sie an ihrem Tee. Ein Blick zu ihm. Ein Blick zu mir. Ein kurzes Nicken.
    Mein Bruder lehnte sich zu mir herüber. »Sie ist bereit, uns aus dem Leben ihrer verstorbenen Schwester zu erzählen«, sagte er leise. »Ich werde für dich übersetzen.«
    »Wie kommst du darauf, dass ausgerechnet ihre Schwester etwas mit der Stimme in mir zu tun hat?«, flüsterte ich erstaunt zurück.
    »Das wirst du verstehen, wenn du ihre Geschichte gehört hast.«

2
    E ine kleine Bauersfrau. Ein großes Herz, in dem trotzdemnicht viel Platz war. Aber ein anderes hatte sie nicht.
    Zwei kleine Jungen und ihre Mutter. Eine große Liebe, die trotzdem keinem von ihnen Glück brachte. Aber eine andere gab es nicht.
    Doch vielleicht begann die Geschichte auch viel früher. Vielleicht begann sie in jener Woche, als Nu Nu zum ersten Mal in ihrem Leben dem Tod begegnete. Ihr Vater war mit stechenden Kopfschmerzen und hohem Fieber erwacht. Schon an den Tagen zuvor hatte er unter einem leichten Durchfall gelitten. Die Kräuter, die der Medizinmann des Dorfes empfahl und die Nu Nus Mutter ihrem Mann zu einem übel riechenden Trunk zusammenbraute, zeigten keine Wirkung. Ebenso wenig die im Feuer erwärmten Steine, die sie ihm auf den Bauch legte, oder die Tinktur, mit der sie über Stunden und mir unendlicher Geduld seine Füße und Waden einrieb. Das Fieber stieg. Egal was er trank oder aß, nichts konnte er mehr in seinem schwächer werdenden Körper halten. Das Leben floss aus ihm heraus. In einem wässrig-braunen Strom, der irgendwann versiegte.
    Das zweite Mal traf Nu Nu den Tod zwei Wochen später. Da starb ihre Mutter unter denselben Umständen.
    Die Nachbarn erzählten, sie habe drei Tage und Nächte regungslos neben ihr gesessen und die Hand der Sterbenden gehalten. Ohne ein Wort zu sprechen. Danach habe sie ausgesehen, als wäre sie in Stein gehauen. Ein kleiner, hagerer Körper, erstarrt, und weit aufgerissene Augen, deren Blick sich stumm geradeaus richtete. Selbst als die Männer den Leichnam aus der Hütte trugen, habe sie sich nicht bewegt. Am Grab habe sie gestanden, ohne eine Träne zu vergießen.
    Nu Nu wusste davon nur vom Hörensagen. An die Wochen, in denen sie dem Tod zum ersten Mal begegnete, hatte sie nur vage Erinnerungen. Eine Stille, die immer stiller wurde, war ihr im Gedächtnis geblieben. Ein Feuer, das erlosch. Seitdem ertrug sie den Anblick von erlöschenden Feuern nicht.
    Und eine warme Hand. Die immer kälter wurde.
    Nu Nu war zu jener Zeit gerade zwei Jahre alt geworden.
    Die Schwestern und Brüder ihres Vaters wollten sie nicht. Ein Kind, das so früh zur Waise wurde, besaß ein schlechtes Karma. Ein Bote des Unglücks, der nur Unheil bringen konnte. Außerdem hatten sie in ihren Hütten genug hungrige Mäuler zu stopfen.
    Schließlich nahm sich ein Bruder der Mutter ihrer an. Er war jung, lebte im selben Dorf, hatte vor Kurzem geheiratet und noch keine eigenen Kinder. Er war ein fleißiger, tüchtiger Bauer, der mit seinem Gemüse oft ein glückliches Händchen bewies. Zugleich war er ein außergewöhnlich unaufgeregter Mensch, der eines im Übermaß

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