Herzenstimmen
besaß: Geduld.
Nu Nu staunte früh über den Gleichmut ihres Onkels. Wie konnte er gelassen bleiben, wenn die Ratten mal wieder den Reisvorrat der Familie geplündert hatten? Wenn der Regen zu spät einsetzte, die Erde vor Trockenheit aufplatzte und die Ernte zu verdorren drohte?
Wie konnte er ruhig zuschauen, wenn seine Frau auf einem Pagodenfest beim Glücksrad ihr Geld wieder und wieder auf den Elefanten setzte, während stattdessen Maus, Tiger oder Affe kamen und erst als der letzte Kyat verspielt war, dreimal hintereinander der Elefant erschien?
Diese Seelenruhe war ihr fremd. Sie war eine Kinderseele, die zu viel wusste. Vom Leben. Vom Tod. Von warmen Händen, und wie schnell sie erkalten können.
Ihre Stimmungen waren so wechselhaft wie das Wetter an einem Tag in der Regenzeit. In einem Moment konnte sie eigensinnig und trotzig sein, im nächsten ängstlich und unsicher.
Sie war temperamentvoll, aufbrausend in ihrer Freude und in ihrer Trauer. Ein verschütteter Teller Reis führte zu bitteren Tränen. Eine falsche Behauptung, die achtlos dahingesagte Beleidigung durch ein Nachbarskind, beschäftigten sie tagelang. Selbst ihre Haut reagierte impulsiv. Bei jeder Aufregung bildeten sich an Armen und Beinen, oft auch am Bauch und auf der Brust, rote Pusteln, die juckten, als wären alle Mücken der Shan-Staaten über sie hergefallen. Nu Nu kratzte sich wund und erwachte nachts blutüberströmt. Kein Medizinmann wuss te Rat, Salben und Beschwörungen halfen nicht. Nach einiger Zeit verschwand der Ausschlag immer wieder von allein.
Wenn Nu Nu im Wald mit anderen Kindern spielte und von einem Atemzug zum anderen von einer übergroßen Traurigkeit heimgesucht wurde, hätte sie nicht sagen können, warum oder woher sie rührte. Tiefschwarze Wolken zogen in den folgenden Stunden über sie hinweg, die Welt verfinsterte sich noch schneller als in den Minuten vor einem schweren Unwetter. Ein toter Schmetterling am Wegesrand genügte, um sie zum Weinen zu bringen. Dann wollte sie nichts lieber als alleine sein. Alles kostete zu viel Kraft: das Spielen, das Entfachen eines Feuers, das Schneiden von Gemüse, ja selbst der Blick in die Augen der anderen Kinder oder ihrer Tante. Solche Tage verbrachte sie am liebsten auf ihrer dünnen Bastmatte, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln.
Am nächsten Morgen hatten sich die Wolken so plötzlich verzogen, wie sie gekommen waren.
An anderen Tagen hingegen war sie von einer fast unerträglichen Leichtigkeit erfüllt, und selbst mühsame Arbeiten wie das Jäten der Beete oder das Schleppen der schweren Wassereimer, gingen ihr leicht von der Hand.
Eine Erklärung dafür hatte Nu Nu nicht.
Sie sei ein Quälgeist, sagte ihr Onkel hin und wieder erschöpft. Was das sei, wollte sie einmal wissen. Er hatte lange nachgedacht und ernst geantwortet: ein gequälter Geist.
Vielleicht, so dachte sie später manchmal, war das der Grund, warum sie sich in der Familie immer fremd gefühlt hatte. Nicht unerwünscht. Gar nicht. Aber anders. Verwandt – nicht seelenverwandt.
Sie lag oft wach bis in die Nacht, hörte das beruhigende Knistern des Feuers, die leisen Stimmen von Tante und Onkel und später dann den gleichmäßigen Atem ihres Schlafs. Ihre Verwandten liebten sie, daran zweifelte Nu Nu nicht. Sie waren fürsorglich. Forderten keine Arbeiten von ihr, die sie nicht leisten konnte. Zürnten nie. Onkel und Tante waren längst zu Vater und Mutter geworden.
Und trotzdem.
Als gäbe es eine unsichtbare Wand, die sie von ihnen trennte.
Nu Nu hatte einen wiederkehrenden Traum, in dem sie als kleines Mädchen auf einer Seite eines gemächlich dahinfließenden Flusses entlanglief. Am anderen Ufer warteten ihre El tern. Sie hatte Angst, fühlte sich allein und wünschte sich nichts sehnlicher, als die Fluten zu durchqueren. Doch sie fürchtete die Strömung und die Krokodile, die im Wasser auf sie lauerten. Immer verzweifelter lief sie am Ufer auf und ab auf der Suche nach einer seichten Stelle. Sie rief und winkte, aber die Eltern beachteten sie kaum. Als sie sich abwendeten und Anstalten machten fortzugehen, vergaß Nu Nu ihre Angst und sprang in den Fluss. Sofort begann eine unheimliche Kraft, sie in die Tiefe zu ziehen. Nu Nu wehrte sich mit kurzen, heftigen Schwimmstößen, wie ihr Vater es sie gelehrt hatte. Als sie die Mitte des Gewässers erreichte, sah sie die Raubtiere von hinten auf sich zukommen. Sie schwamm schneller, immer schneller, und trotzdem kamen sie näher. Noch
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