Herzenstimmen
wie viel er meditierte. Er war ein Mensch. Ein einfacher, verwundbarer Mensch, voller Hoffnungen und Ängste, voller Begehren und Sehnsüchte, dessen Glück sehr zerbrechlich war. Irgendwann wäre er bestimmt in der Lage, sein Herz nicht mehr zu verlieren.
Aber nicht in diesem Leben. Nicht, solange es Nu Nu gab.
Nu Nu spürte in dieser Zeit kaum etwas. Sie hatte das Gefühl, der Tod stünde noch immer in der Tür, seinen widerwärtigen Geruch verbreitend, kurz davor einzutreten. Unentschlossen, wen er holen sollte. Sie oder ihr Kind? Oder beide?
Sie fürchtete sich nicht. Selbst für die Angst fehlte ihr die Kraft.
Von ihrem Sohn merkte sie nicht viel mehr als seine Lippen, die in regelmäßigen Abständen an ihr saugten. Seinen zarten Atem auf ihrer Haut. Seine kurzen, erbarmungswürdigen Schreie, die statt lauter und kräftiger leiser und schwächer wurden. Seine Haut war faltig und welk, das spürte sie, wenn sie matt über seinen winzigen Körper strich.
Die Hebamme machte Maung Sein keine großen Hoffnungen. Sie hatte zu viele Mütter und Säuglinge sterben sehen. Nach einer so schwierigen Geburt lauerten überall Gefahren. Nu Nu hatte viel zu viel Blut verloren. Sie war zu geschwächt, der Säugling sowieso, und die Welt steckte voller Keime, Bakterien, Viren und Parasiten, die nur darauf warteten, über sie herzufallen. Ihr Schicksal würde sich in den kommenden Tagen, vielleicht Wochen entscheiden, und außer der Fürsorge, mit der sie die beiden pflegten, gab es nicht viel, was sie tun konnten. Vorsichtshalber brachte sie dem Geist, der in dem Feigenbaum unweit des Hauses lebte, zweimal in der Woche kleine Opfergaben. Reis. Bananen. Orangen. Sie wusste nicht, ob er die Macht besaß, Nu Nu zu heilen, aber es konnte unmöglich ein Fehler sein, ihn gnädig zu stimmen.
Später, als Nu Nu und ihr Sohn es geschafft hatten, sprach sie von einem Wunder. Sie hatte das Kind zum ersten Mal während der Geburt und auch später noch einmal für tot gehalten und Nu Nu aufgegeben. Für eine Frau mit einem leblosen Baby im Leib gab es keine Rettung. Für eine Frau mit so wenig Blut auch nicht. Sie waren auf dem Weg zu einer neuen Existenz gewesen, und noch nie hatte sie eine Mutter und ihr Kind von so weit her zurückkommen sehen.
Eines Morgens erwachte Nu Nu und wusste, dass der Tod sich anders entschieden hatte. Zum ersten Mal seit der Geburt lag kein Verwesungsgeruch in ihrer Nase, sondern das süße Aroma reifer Mangos. Zum ersten Mal seit der Geburt spürte sie ihren Körper wieder, ohne zu frieren. Sie atmete mehrmals tief ein und aus und schnupperte am Haarschopf ihres Sohns, der auf ihrer Brust schlummerte.
Auch er roch anders. Ein Hauch von Mandeln und Honig. Der Duft des Lebens.
Sie schaute sich in der Hütte um. Der Türrahmen war leer, er gab den Blick frei auf den Papayabaum und die Palmen im Hof. Durch die Fenster fielen Sonnenstrahlen, in deren Licht zwei Schmetterlinge tanzten. Maung Sein hockte am lodernden Feuer und rührte in einem Topf. Neben ihr lagen Handtücher, in einer kleinen Vase steckte eine gelbe Hibiskusblüte, daneben, in einem Kreis verstreut, die Blütenblätter roter Rosen.
Sie wollte sich aufrichten, fühlte aber, dass ihr die Kraft fehlte. Sie rief nach ihm, er reagierte nicht. Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, alles nur zu träumen. Vielleicht war dies nicht die Rückkehr ins Leben, sondern der Moment des endgültigen Abschiednehmens. Eine furchtbare Angst überfiel Nu Nu. Sie wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht mit ihrem Sohn im Arm. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und rief noch einmal seinen Namen. Laut und deutlich. Er drehte sich um. Verwirrt. Als traue er seinen Ohren nicht.
»Nu Nu?«
»Ja«, flüsterte sie.
Er stand auf, näherte sich ihr mit vorsichtigen Schritten und beugte sich über sie.
»Nu Nu?«
Sie lächelte schwach.
8
A ls sie mit ihrem schlafenden Sohn im Arm zum ersten Mal aus dem Haus trat, noch unsicher auf den Beinen, mit einer Hand das Geländer fest umklammernd, blickte sie erstaunt über den Hof. Er war vertraut und fremd zugleich. Irgendetwas war anders, ohne dass sie gleich hätte sagen können, was es war. Die Morgensonne leuchtete durch die Büsche. Die Blätter der Bananenstauden wirkten grüner, ihre Früchte größer und gelber. Der Hibiskus und die Bougainvillea hatte sie noch nie so schön gesehen. Ein warmer Wind streichelte ihre Haut. Unter ihr hockte Maung Sein auf einem Klotz und hackte Kleinholz. Schlag für Schlag
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