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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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spaltete er faustdicke Äste. Die Monotonie seiner Bewegungen strahlte etwas unendlich Beruhigendes aus.
    Nu Nu betrachtete Ko Gyi in ihren Armen. Er hatte ihre Nase. Ihren Mund. Ihre zimtfarbene Haut. Sie nahm vorsichtig eines seiner Händchen. Es war warm. Und würde es immer bleiben. Plötzlich öffnete er blinzelnd ein Auge, kurz darauf das andere. Er hatte auch ihre Augen, kein Zweifel. Ko Gyi musterte seine Mutter ernst und konzentriert. Sie lächelte, seine tiefbraunen Augen bewegten sich nicht. Sie blickten einander lange an. Dann glitt ein leises Lächeln über sein Gesicht. Noch nie hatte ein Mensch sie so angelacht. Noch nie hatte sie ein Blick so gerührt.
    Sie war zurück.
    In den folgenden Wochen kam sie mehr und mehr zu Kräften, und es dauerte nicht lange, da konnte sie ihrem Mann in einfachen Dingen wieder zur Hand gehen. Sie kaufte auf dem Markt ein, balancierte den großen Korb mit dem Reis und Ge müse auf dem Kopf, den Weg zu ihrer Hütte hinauf, Ko Gyi fest vor ihre Brust gebunden. Im Gegensatz zu allen anderen jungen Müttern im Dorf mochte sie ihn nicht auf dem Rücken tragen. Sie wollte ihn sehen. Sie wollte seine Haare riechen. Sie wollte, dass sich ihre Herzen hören konnten.
    Zu Hause erledigte sie alle Arbeiten mit einer Hand. Sie entfachte das Feuer einhändig, kochte, fegte den Hof, rupfte das Unkraut aus den Tomatenbeeten, wusch Longys und Tücher, entwickelte sogar eine Technik, sie einhändig auszuwringen – alles, weil sie ihren Sohn nicht ablegen wollte. Nicht für eine Sekunde. Sie waren zusammen dem Tod geweiht gewesen, sie waren gemeinsam zurückgekehrt, und es würde lange dauern, bis sie bereit war, ihn auch nur für wenige Minuten aus den Augen zu lassen.
    Wenn Maung Sein sich am Morgen auf den Weg zum Feld machte, begann für Nu Nu die schönste Zeit des Tages. War Ko Gyi wach, wickelte sie ihn aus und betrachtete seinen kleinen, makellosen Körper. Der schönste, den sie je gesehen hatte. Ein voller Haarschopf, ein rundes Gesicht mit auffallend großen Augen und wohlgeformten Lippen. Sie staunte über die weiche Haut, roch an ihm. Nahm seine winzigen Hände und Füße in den Mund, streichelte ihm wieder und wieder über Bauch und Beine und erkannte in seinen Augen, wie sehr er jede Berührung genoss. Seine winzigen Finger umklammerten die ihren so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. Täglich bemerkte sie Veränderungen, und waren sie noch so klein. Sein Griff gewann an Kraft. Die Augen wurden größer, der Blick wacher, das Strampeln heftiger. An den viel zu dünnen Oberschenkeln und Ärmchen tauchten die ersten Ringe auf. Sein Blick begann sich von ihr zu lösen und zu wandern. Fixierte die Schatten an der Wand. Staunte über seine eigenen Händchen, die wie Sternschnuppen plötzlich auftauchten, durch sein Gesichtsfeld zogen und auf rätselhafte Weise wieder verschwanden. Bis er lernte, sie zu kontrollieren und zum Mund zu führen. Mit jedem Tag, dachte Nu Nu, kam seine Seele ein wenig mehr an auf dieser Welt. Eine Knospe, die sich langsam entfaltete.
    Fing er zu weinen an, trug sie ihn im Haus und auf dem Hof umher, weil ihn die Bewegung beruhigte. Dabei erzählte sie ihm ausführlich, was sie sahen. Beschrieb den leuchtend gelben Hibiskus und die reifen Tomaten. Die fetten Insekten. Die singenden Vögel.
    Es genügten wenige Sekunden, und Ko Gyi verstummte und lauschte aufmerksam der Stimme seiner Mutter.
    Nachdem sie alles zum wiederholten Mal gesehen und beschrieben hatte, dachte sie sich Geschichten aus. Es war ein fortwährender Redefluss, von dem sie hoffte, er möge ihren Sohn umhüllen und forttragen, eine Melodie, die ihn durch das Leben begleiten und im Notfall beschützen sollte.
    Zum Stillen hockte sie sich oft mit einem Becher Tee auf die Veranda, ließ Ko Gyi saugen, bis er einschlief, hielt ihn in ihren Armen oder auf ihrem Schoß und schaute ihm beim Schlafen zu. Freute sich über jedes Lächeln, das ihm Träume auf die Lippen zauberten. Jeden Seufzer. Jeden Atemzug.
    Sobald Maung Sein nach Hause kam, setzte er sich zu ihr, aber nach einigen Minuten wurde er ungeduldig. Er verstand nicht, wie seine Frau einen reglos mit geschlossenen Augen daliegenden Menschen so lange betrachten konnte.
    »Wird es dir nie langweilig?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    Sie zuckte mit den Schultern.
    »Was siehst du, wenn du ihn anschaust?«
    Nu Nu überlegte. »Alles.«
    »Was alles?«
    »Das Rätsel des Lebens. Und seine Lösung.«
    Ein verstörter Blick war

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