Herzenstimmen
Kindes.
Die meisten Frauen, mit denen sie vor der Geburt auf dem Feld oder am Brunnen gesprochen hatte, wussten von den Stunden nach der Entbindung nur wenig zu berichten. Sie waren froh, überlebt zu haben. Hatten schnell ältere Kinder zu versorgen gehabt oder die Tortur einfach nur vergessen wollen. Nicht so Nu Nu. Sie erinnerte sich selbst Jahre später, trotz ihrer Erschöpfung, an jedes Detail. Das blut- und schleimverschmierte Bündel, das auf ihrer Brust lag. Maung Seins verzerrtes Gesicht, seinen Arm und die große, klaffende Wunde darin. Ihm fehlte ein daumengroßes Stück Fleisch kurz über dem Ellenbogen.
Ihr bebender Körper, die kaum zu ertragenden Schmerzen.
Das lodernde Feuer mit dem großen Kessel, in dem die Frauen Handtücher für sie auskochten.
Das pochende Herz ihres Sohnes, sein schneller Atem. Seine verschrumpelten Fingerchen und die verquollenen, dunkelbraunen Augen, aus denen er sie anschaute. Nie sollte sie diesen Blick vergessen. Und das Glück, das sie empfand.
Sie hielt ihn fest und würde ihn nicht wieder loslassen. Er war ein Teil von ihr und würde es immer bleiben.
Ob er wollte oder nicht.
Dann verlor sie das Bewusstsein.
7
D ie Wochen nach der Geburt ihres Sohnes verbrachte Nu Nu in einer Welt irgendwo im Niemandsland zwischen Leben und Tod. Die Hütte, das Feuer, den Qualm und die Gesichter, die sich über sie beugten, nahm sie nur verschwommen wahr. Die Grenzen zwischen Tag und Nacht existierten nicht mehr. Sie schlief viel, wurde von einem entsetzlichen Durst oder dem Wimmern ihres hungrigen Kindes geweckt, stillte, aß und trank, was immer Maung Sein ihr reichte, und schlief weiter. Die Fürsorge der Hebamme, die Säfte, die sie ihr presste, die Salben, mit denen ihr Mann sie einrieb, ließ sie über sich ergehen, ohne eine Regung zu zeigen.
In ihren wenigen wachen Stunden dämmerte sie vor sich hin, zu entkräftet, um aufzustehen oder auch nur ein paar Worte zu wechseln. In ihrer Nase lag der süßliche Geruch von verwesten Tieren.
Maung Sein bereitete das Essen zu. Er kochte Tücher und Stoffe aus, wechselte ihre Wäsche, wusch ihren verschwitzten Körper, hockte sich neben sie und redete auf sie ein in der Hoffnung, seine Stimme möge ihr helfen. Hin und wieder, wenn sein Sohn schlief, hob er seine Frau vorsichtig hoch und trug sie in seinen Armen für einige Minuten in den Hof. Wie leicht sie geworden war, erschreckte ihn. Ein Sack Reis wog kaum weniger. Obgleich sie die Augen nur kurz öffnete und kaum reagierte, ging er mit ihr langsam ums Haus. Sie sollte sehen, wie die Bougainvillea blühte. Der Mohn. Der gelbe Hibiskus, dessen Farbe sie so liebte. Wie die Tomaten, die er für sie angebaut hatte, wuchsen, die Früchte der Bananenstauden.
Sie sollte sehen, wie das Leben auf sie wartete. Wie sehr er sie brauchte. Der Tod war ein stiller Besucher, dem man keine Fragen stellte.
Der sich nahm, wen er wollte. Aber nicht Nu Nu. Sie durfte nicht gehen. Nicht ohne ihn.
Am Abend, die Hebamme war längst fort, saß er allein am Kopfende des Lagers und versuchte zu meditieren. Es gelang ihm nicht. Stattdessen betrachtete er im Schein einer Kerze stundenlang die Gesichter seiner schlafenden Frau und seines schlafenden Sohnes. Er dachte an die Worte der Mönche, bei denen er so viele Jahre gelebt hatte. Von ihnen hatte er gelernt, was er wusste über das Leben: dass jeder Mensch sein eigenes Schicksal kreiert. Ausnahmslos.
Aber Maung Sein fühlte sich in diesen Wochen nicht als Meister seines Schicksals. Er war ein Getriebener. Ein Sklave seiner Ängste.
Was konnte er verbrochen haben, dass er es verdiente, Frau und Kind zu verlieren? Er wollte niemanden für seine Sorgen verantwortlich machen als sich selbst, aber war es wirklich seine Schuld, wenn aus ihm ein junger Witwer würde? Welche Fehler hatte er begangen?
Maung Sein kannte die Antwort auf seine Fragen: Er hätte ja nicht heiraten müssen. Er hätte sein Herz nicht an Nu Nu verlieren dürfen. Dann würde er, das sah er ein, jetzt auch nicht leiden. War es das, was der Buddha in seiner unergründlichen Weisheit predigte? Hätte er seine Frau nicht geschwängert, müsste er sich jetzt nicht um das Leben seines Kindes ängstigen. Aber was wäre das für ein Dasein? Ein Leben ohne Anhaftungen. Ein Leben ohne Menschen, die man zu verlieren fürchtete. Das Leben eines Mönchs. Nicht seins. Er fürchtete nichts mehr als Nu Nus Tod.
Der Preis der Liebe.
Er war kein Buddha. War nicht einmal auf dem Weg dorthin, egal
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