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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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an die Decke. Es war nichts, worüber er sich bisher Gedanken gemacht hatte. Er überlegte, was die Mönche auf so eine Frage geantwortet hätten. Dass die Wahrheit eines jeden Menschen in seiner Seele liegt; dass diese Wahrheit nicht starr, sondern veränderbar ist. Dass jeder Mensch frei ist und uns niemand verwunden kann, niemand retten, niemand verändern, abgesehen von uns selbst. Davon war er fest überzeugt. Und wenn wir die Macht besaßen, uns zu ändern, wenn die Wahrheit in unserer Seele nicht in Stein gehauen war, dann konnte auch aus einem gequälten Geist ein gelassener werden.
    »Oder«, hörte er sie fragen, »müssen wir bleiben, wer wir sind?«
    »Nein«, erwiderte er entschieden, »das müssen wir nicht.«
    Sie legte ihren Kopf auf seine Brust, betrachtete nachdenklich ihren Sohn, der neben seinem Vater lag und schlief, und hoffte inständig, dass er recht hatte.

10
    T har Thar wollte leben. Was immer seine Mutter anstellte, um ihn loszuwerden, er widersetzte sich. Hartnäckig hatte er sich in ihr eingenistet und zu wachsen begonnen. Allen Anstrengungen und Schlägen zum Trotz.
    Nachdem er neununddreißig Wochen und fünf Tage geduldig ausgeharrt hatte, konnte er nicht länger warten: Thar Thar wollte auf die Welt.
    Seine Geburt dauerte weniger als eine Stunde und verlief ohne Komplikationen. Die Fruchtblase platzte im Morgengrauen, die Sonne stand noch nicht über den Bergen, da hatte ihn das Wasser in einer kleinen Hütte auf ein paar feuchte Tücher gespült. Nu Nu musste nicht einmal richtig pressen.
    Thar Thar war, das lernte sie früh, kein Mensch, der gerne auf die Hilfe anderer angewiesen war. Er wog mehr und war größer als sein Bruder. Sein erster Schrei tönte so laut, dass selbst jene Bauern, die auf der anderen Seite des kleinen Tals wohnten, noch Jahre später schworen, sie hätten ihn deutlich vernommen.
    Ein gesunder und kräftiger Junge, hörte sie die Hebamme sagen. Und ein hübscher, wie die Mutter. Jemand legte ihn ihr auf den Bauch. Nu Nu hob den Kopf. Sie konnte keine Ähnlichkeit erkennen. Sie sah nichts als ein blutverschmiertes Wesen mit spitzem Kopf, das sie wutentbrannt anschrie. Aus Leibeskräften. Schrill und durchdringend. So hatte sie Ko Gyi nie brüllen gehört. Nicht ein Mal.
    Die besänftigenden Stimmen der Frauen um sie herum. Maung Sein wischte ihr mit einem feuchten Tuch den Schweiß aus dem Gesicht. Sie nahmen ihren Sohn, wuschen ihn, versuchten, ihn durch Streicheln und Wiegen zu beruhigen. Ohne Erfolg.
    Er sei hungrig, sie müsse ihn stillen, sagte die Hebamme.
    Nu Nu wollte nicht. Sie sei zu müde. Später.
    Die Hebamme duldete keine Widerrede und legte ihn ihr an die Brust.
    Es schmerzte vom ersten Moment. Er nuckelte nicht. Er sog. Er sog an ihr mit einer Kraft und Begierde, als wolle er seine Mutter bis auf den letzten Tropfen leer trinken. Dabei hielt er beide Fäustchen geballt und schaute sie von unten an.
    »Ein ungewöhnliches Kind«, erklärten die Geburtshelferinnen übereinstimmend und gratulierten ihr. Sie könne stolz sein. Nun war sie Mutter zweier gesunder Söhne. Welch ein Glück! Nicht jeder Frau im Dorf war die Erfüllung dieses Wunsches vergönnt.
    Nu Nu wollte nichts hören. Sie wollte nicht dankbar sein müssen. Sie wollte nichts als ihre Ruhe.
    In der Nacht erwachte sie von seinem Gebrüll. Maung Sein war bereits aufgestanden, hatte eine Kerze angezündet, kniete neben ihrem Sohn und betrachtete ihn sorgenvoll. Thar Thars Körper war steif wie der eines toten Tieres, Mund und Augen weit aufgerissen, seine Lippen zitterten. Er stieß Schreie aus, die ihr durch den ganzen Körper gingen und von Sekunde zu Sekunde unheimlicher wurden. Was konnte ihn quälen, dass er so furchtbare Geräusche von sich gab?
    »Vielleicht hat er schlecht geträumt«, sagte ihr Mann und schaute sie hilflos an.
    Nu Nu fragte sich, wovon Neugeborene träumen können.
    »Oder hat er Hunger?«
    Sie rutschte zu ihrem Sohn, versuchte ihn an die Brust zu legen, doch er wendete sich ab und schrie nur noch heftiger.
    Ihr Mann strich ihm über Kopf und Bauch, ohne eine Reaktion zu bekommen. »Meinst du, ihm tut etwas weh?«
    Nu Nu zuckte ratlos mit den Schultern. In ihren Ohren klang sein Brüllen weniger nach Schmerzen. Sie hörte darin eine zornige, verzweifelte Anklage.
    »Vielleicht will er nicht bei uns sein?«, sagte sie halblaut, wie zu sich selbst.
    »Wo soll er sonst sein wollen?«, erwiderte ihr Mann schroff.
    »Ich weiß nicht. Ko Gyi hat nie so

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