Herzenstimmen
geschrien.«
Maung Sein schüttelte den Kopf, tupfte ihm winzige Schweißperlen von der Stirn, nahm ihn auf den Arm und trug ihn in der Hütte herum. Er sang. Pfiff. Wippte in den Knien, drehte sich im Kreis.
Was sie auch anstellten, ihr Sohn war in einer Welt, in der sie ihn nicht erreichten. Am Ende verstummte er vor Erschöpfung. Sein kleiner Körper zuckte noch einige Male, dann fielen ihm die Augen zu. Selbst im Schlaf schluchzte er noch mehrmals tief.
Am nächsten Tag untersuchte die Hebamme ihn, konnte jedoch keine Ursache für sein Klagen finden und bat Nu Nu um etwas Geduld. Jedes Kind ist anders. Manche Babys schreien mehr, andere weniger. Sie dürfe nicht vergessen, wie weit er gereist sei. Ihren Erstgeborenen habe sie nur so ruhig erlebt, weil sie beide wochenlang zwischen Leben und Tod geschwebt hätten.
Drei Tage später waren ihre Brüste so entzündet, dass sie weder Thar Thar noch seinen Bruder ernähren konnten. Ko Gyi war alt genug, um Reisbrei und Gemüse zu essen, Thar Thar hingegen musste von einer jungen Frau aus dem Dorf gestillt werden, die selbst vor Kurzem ein Kind bekommen hatte. Nu Nu war jedes Mal froh, wenn Maung Sein ihn wegbrachte und in ihrer Hütte für eine Weile Ruhe herrschte.
Thar Thars Rückkehr kündigte sich oft schon von Wei tem an.
Nu Nu spürte die Anspannung in ihrem Körper.
Sie bewunderte die Geduld ihres Mannes, er schaffte es mittlerweile fast immer, ihn mit Tragen, Schaukeln und Singen zu beruhigen. Eine Ruhe, die nie lange währte.
Als das Gebrüll nicht weniger wurde, untersuchte ihn die Hebamme ein zweites Mal. Betastete den Bauch und fühlte etwas Luft darin, die sie ihm mit ein paar geschickten Bewegungen in Form eines langen, lauten Furzes entlockte. Sah sich Mund, Ohren und Nase an, nichts deutete auf eine Entzündung hin. Sein Blick fixierte ihren Finger und folgte seinen Bewegungen. Die Reflexe funktionierten, Arme und Beine, Füße und Händchen waren wohlgeformt. Thar Thar lag nackt vor ihr, er musterte die fremde Frau neugierig und ließ die Prozedur ohne Protest über sich ergehen.
»Körperlich ist er gesund«, sagte sie und wickelte ihn wieder ein.
»Warum schreit er dann so viel?«
Die Hebamme zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht.«
Nu Nu dachte an die Stunden zurück, in denen sie nachts wach gelegen hatte, hoffend, das Leben in ihr möge aufhören zu wachsen. War es möglich, dass er irgendetwas davon mitbekommen hatte?
Von dem Reis, den Papayas und den Bananen, die sie für seinen erhofften Tod geopfert hatte ? Von ihren schwarzen Tränen? Den verzweifelten Schlägen gegen ihren Bauch? Wusste er von ihrem Wunsch, ihn in eine andere Familie zu geben? Unmöglich. Er war ein paar Wochen alt. Was für eine absurde Idee.
Trotzdem fragte Nu Nu die Hebamme so beiläufig, wie es ihr möglich war, ob sie glaube, dass Babys etwas erinnern.
Die Frau schaute sie an, als wäre sie erstaunt über die Frage. »Selbstverständlich«, erklärte sie.
»Meinst du wirklich? Meine Eltern starben, als ich zwei Jahre alt war«, entgegnete Nu Nu zweifelnd. »Ich könnte jetzt nicht einmal mehr sagen, wie sie aussahen.«
Die Hebamme nickte. »Das ist etwas anderes. Bilder mögen verblassen, Geräusche und Gerüche in unserer Erinnerung verschwinden. Aber unser Herz vergisst nichts. Eine Kinderseele weiß alles.«
Nu Nu lief ein Schauder über den Rücken.
»Warum fragst du?«
»Nur so.« Dabei ließ sie es bewenden.
Doch die Sätze der Hebamme gingen ihr nicht aus dem Kopf. Was bedeutete es, wenn sie recht hatte? Wenn irgendwo in diesem Herzen das geheime Wissen seines Ungewolltseins verborgen lag? Was mochte es in ihm anrichten? Würde es mit den Jahren vergessen werden, so wie sie alltägliche Dinge vergaß? Oder würde es ihn ein Leben lang begleiten?
Nu Nu fragte ihren Mann, ob er glaube, dass Gedanken allein Unheil stiften könnten.
»Alles hat Konsequenzen«, erwiderte er.
»Auch Gedanken?«
»Alles.«
»Selbst welche, die vor langer Zeit gedacht wurden?«
Er verstand nicht, was sie meinte.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte sie nach langem Nachdenken. »Ich glaube, dass Gedanken, wenn ihnen keine Taten folgen, einfach so verschwinden. Wie Wolken. Oder Wasser, das in der Erde versickert.«
Maung Sein lächelte. »Das Wasser siehst du nicht mehr, aber deshalb ist es noch lange nicht weg. Die Pflanzen ernähren sich davon. Die Bananen, die wir essen. Die Vogelbeeren, die uns vergiften. Nichts geht verloren. Auch
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