Herzenstimmen
Gedanken haben Folgen.«
Nach diesem Gespräch konnte niemand behaupten, sie hätte in den folgenden Wochen und Monaten nicht alles in ihren Kräften Stehende versucht, ihrem Sohn zu helfen. Sie wollte ihm eine gute Mutter sein, so wie Maung Sein ihm ein guter Vater war.
Nu Nu sang für ihn. Sie sprach zu ihm. Arbeitete Maung Sein auf dem Feld, trug sie Thar Thar mit der gleichen Geduld umher, wie er es tat. Er lag in ihren Armen, zur Ruhe kam er dort nicht.
Warum weinte er, wenn sie ihn hielt? Warum war er so sparsam mit seinem Lächeln? Warum boxte und trat er so oft?
Selbst sein Blick war ihr unangenehm. Prüfend schaute er sie an. Mit gerunzelter Stirn. Viel zu ernst für ein Kind. Oder war es Misstrauen, das aus seinen dunklen, fast schwarzen Augen sprach?
Eine Kinderseele weiß alles. Ein Herz vergisst nichts.
So vertraut ihr der Ausdruck Ko Gyis vom ersten Moment an war, so fremd blieb ihr dieser.
Maung Sein ermahnte sie, endlich damit aufzuhören, die Kinder zu vergleichen. »In jedem Vergleich ist das Unglück zu Haus.«
Nu Nu überlegte, ob ein Mensch als gequälter Geist auf die Welt kam oder ob die Welt ihn dazu machte. Eine Frage, auf die sie keine befriedigende Antwort fand, egal wie lange sie darüber nachdachte.
Vielleicht war im Falle Thar Thars das Muttermal unter dem Kinn ein Hinweis auf die Lösung dieses Rätsels. Am Tag nach der Geburt war es ihr zum ersten Mal aufgefallen, ohne dass sie dem dunkelbraunen Fleck weitere Beachtung geschenkt hätte. Jetzt wusste sie, an wen er sie erinnerte. An den Bruder ihres Vaters, einen Trunkenbold, der jeden Kyat, den er verdiente, für Reiswein vergeudet hatte. Seine Frau hatte ihn mit den Kindern verlassen, kurz darauf war er über Nacht aus dem Dorf verschwunden und seither nie wieder gesehen worden. Möglicherweise war er vor Kurzem gestorben, und vielleicht war seine Seele in ihren Sohn weitergewandert? Ein Muttermal dieser Größe an der gleichen Körperstelle. Konnte das ein Zufall sein?
Maung Sein reagierte empört, als sie ihm zögerlich von ihren Gedanken berichtete. Besagter Onkel hatte, wenn er ihren Erzählungen glauben durfte, in seinem Leben so viel schlechtes Karma angehäuft, dass er unmöglich als ihr Sohn wiedergeboren werden konnte. Als Krüppel vielleicht. Als Blinder. Oder als Kind eines anderen Trunkenboldes. Aber doch nicht als Sohn zweier Eltern, die ihre Kinder liebten und umsorgten, wie sie es taten. Ob sie ernsthaft glaube, dass es eine Strafe sei, in ihre Familie hineingeboren zu werden.
Seine Argumente leuchteten ihr ein.
Und trotzdem.
Wie verteilt eine Mutter ihre Liebe?
Käme sie in kleinen Kügelchen, in Form von Blättern oder Sandkörnern, sie könnte sie abzählen und gleichmäßig be messen.
Wenn sie es wollte.
Käme sie in einem großen, warmen, weichen Batzen wie ein Reiskuchen, sie könnte sie in gleich große Stücke schneiden und aufteilen.
Oder in einem dickflüssigen, wohlriechenden Extrakt, den sie Tropfen für Tropfen in Gläser füllen und ihren beiden Kindern zum Trinken reichen würde.
Aber Liebe kennt keine Gerechtigkeit. Sie gehorcht ihren eigenen Gesetzen.
Auch die einer Mutter.
11
T har Thar machte es niemandem leicht. Seinem Vater nicht. Seiner Mutter nicht. Sich selbst am allerwenigsten.
Er blieb ein ernstes, unruhiges Baby, das seine Umgebung misstrauisch beobachtete. Nur Maung Sein mit seinen Grimassen konnte ihm hin und wieder ein Lachen entlocken.
Er wurde ein ungeduldiges Kind, dem kaum etwas schnell genug ging. Er wollte aufrecht sitzen, bevor sein Körper die Kraft dazu besaß, und wütete, sobald er umfiel. Er wollte krabbeln, bevor seine Muskeln ihn trugen, und brüllte, wenn ihn nach einem halben Meter die Kräfte verließen.
Er schlief schlecht ein, zuckte im Schlaf, als plagten ihn Schmerzen, schreckte in der Nacht oft auf.
Eine kleine Seele. Eine große Angst. Nu Nu lag neben ihm. Mit schwerem Herzen. Und noch schwererem Gewissen.
Nachdem er sich endlich auf allen vieren fortbewegen konnte, hasste er es, getragen zu werden. Sein Kriechen kannte, so empfand es seine Mutter, immer nur ein Ziel: weg. Fort von ihr. Legte sie ihn neben sich, dauerte es nur wenige Sekunden, und er war in eine andere Ecke der Hütte unterwegs, am liebsten Richtung Tür, ohne sich umzudrehen. Die Rufe Nu Nus ignorierte er. Sie musste ihm nacheilen, ihn hochheben und ein wütend strampelndes Kind zurückholen. Kaum setzte sie ihn ab, begann sein Kampf mit ihr von vorn.
Im Gegensatz zu seinem
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