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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Bruder. Ko Gyi fühlte sich am wohlsten in der Nähe seiner Eltern. Er wurde lieber getragen, als selbst zu laufen, und wenn er seine Umgebung erforschte, tat er es vorsichtig und voller Bedacht, entfernte sich nie mehr als wenige Meter und kehrte beim ersten warnenden Ruf um. Wenn Nu Nu sich zu ihm hockte und eine Orange über die Holzbretter rollen ließ, lief er ihr, schwankend und vor Vergnügen quietschend, hinterher, um sie, sobald er die Frucht eingeholt hatte, in beide Hände zu nehmen und stolz seiner Mutter zu zeigen. Manchmal liefen Mutter und Sohn um die Wette durch die Hütte. Oder sie versteckte sich hinter einem Balken. Seine Freude, wenn er sie fand.
    Thar Thar interessierten ihre Spiele nicht.
    Einmal, Nu Nu war mit Ko Gyi beschäftigt, kroch er quer durch die Hütte zum Feuer. Er hockte sich davor und betrachtete fasziniert die lodernden Flammen und die leuchtend rote Kohle. Lauschte dem Knistern. Neugierig beugte er sich vor und griff nach einem eigroßen Stück Glut.
    Nu Nu wurde schwindelig vor Schreck. Thar Thar drückte einmal fest zu.
    Der Geruch von verbrannter Haut.
    Er schrie kurz auf, ließ die Kohle fallen, blickte verwundert auf seine Finger, auf das glimmende Etwas vor ihm, dann wieder auf seine nun tiefrote Hand. Statt vor Schmerzen weiter zubrüllen, drehte er sich um und schaute seine Mutter an. Voller Wut.
    Als wäre es ihre Schuld.
    Nu Nu eilte herbei, nahm ihn in den Arm, tauchte das ver brannte Händchen in Wasser, pustete aus Leibeskräften, versuch te, ihn zu trösten. Allein der Anblick seiner Wunde tat ihr weh.
    Thar Thar hingegen zeigte keine weitere Reaktion. Weinte nicht. Klagte nicht. Eine große Wunde. Ein stummes Kind. Eine ratlose Mutter.
    Er war und blieb ihr ein Rätsel. Seine Fähigkeit, Schmerzen nicht zu spüren oder sie sich nicht anmerken zu lassen, so genau wusste sie nicht, was es war, sollte ihr in den folgenden Jahren noch häufig unheimlich sein.
    Und ein Trost.
    Wer war dieser Mensch, den sie geboren hatte? Ein gequälter Geist, ohne Zweifel. Nicht der einzige in der Familie. Aber was Mutter und Sohn hätte verbinden können, trennte sie.
    Nu Nu besaß mit ihm nicht die Geduld, die ihr Vater ihr erwiesen hatte und ohne die gequälte Geister nie zur Ruhe kommen.
    Es sind die eigenen Schwächen, die wir dem anderen am wenigsten verzeihen.
    Sobald Thar Thar sicher laufen konnte, machte er sich auf, die Welt zu erkunden. Allen Ermahnungen und Verboten zum Trotz. Er kroch wieder und wieder durch die dichte Hecke, die den Hof säumte, und streunte durch das Dorf. Nachdem er zum zweiten Mal in den Brunnen gefallen und nur durch einen Zufall gerettet worden war und Nu Nu von Maung Sein und den Nachbarn wegen ihrer Fahrlässigkeit heftig gescholten wurde, nahm sie ein Seil, knotete das eine Ende um seine Hüfte und band das andere an einen der Pflöcke, auf denen das Haus stand. Nachdem Thar Thar verstanden hatte, dass seine Welt auf einen Radius von fünf Metern geschrumpft war, fing ein wütendes Protestgeschrei an, wie es das Dorf noch nicht gehört hatte. Sie ignorierte ihn in der Hoffnung, er würde irgendwann von selbst aufhören.
    Sie drohte ihm, ihn ganz an den Pfeiler zu fesseln, wenn er nicht still sei. Als er nicht verstummte, machte sie ihre Drohung war. Sie würde ihn erst wieder losbinden, wenn er Ruhe gebe.
    Thar Thar war kein Kind, das sich durch Strafen beeindrucken ließ.
    Maung Sein hörte am Abend das Weinen seines Sohnes schon vom Rand des Dorfes. Die Mischung aus Wut und Verzweiflung war ihm wohlvertraut. Zu Hause fand er einen verstörten Ko Gyi und zwei Gefangene. Einen gefesselt an einen Pfahl, die andere nicht.
    Nie zuvor hatte er seine Frau so aufgebracht gesehen.
    Er wollte wissen, was geschehen war. Nu Nu hatte keine Antworten auf seine Fragen.
    An diesem Abend war ihr so schwer ums Herz wie nie zuvor. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Welt und das Glück, das in ihr wohnte, Stück für Stück zerfiel. Ko Gyi wurde immer stil ler. Sie und Maung Sein waren erschöpft von den schlaflo sen Nächten und begannen zu streiten. Die Verwandten, die ihr hätten helfen können, lebten zwei Tagesmärsche entfernt. Die Nachbarn hatten mit ihren Feldern und Kindern genug zu tun.
    Bald darauf hatte Maung Sein ein Einsehen und nahm Thar Thar mit aufs Feld. Vater und Sohn verließen fortan jeden Morgen kurz nach Sonnenaufgang die Hütte und waren oft erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Die ersten ein, zwei Kilometer lief Thar Thar allein, dann

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