Herzenstimmen
wollte er getragen werden. Maung Sein setzte ihn sich auf die Schulter, die Hände voll beladen mit den schweren Werkzeugen. Der Junge klammerte sich am Haarschopf seines Vaters fest und wippte im Rhythmus seiner Schritte. Manchmal hielt er ihm die Augen zu, und Maung Sein tat so, als könne er nichts mehr sehen, begann zu torkeln oder lief geradewegs auf einen Graben oder Baum zu. Im letzten Moment machte er kehrt, über ihm quiekte sein Sohn vor Vergnügen. So benötigte er für den Weg eine Stunde mehr als früher, Zeit, die ihm bei der Arbeit fehlte.
Auf dem Feld baute er für Thar Thar aus Bambus und Palmenblättern einen Unterstand als Schutz gegen Sonne und Regen und wies ihm ein kleines Stück Acker zu, das er »bewirtschaften« sollte.
In den ersten Monaten formte er tagein, tagaus Tiere aus der festen Erde und spielte mit ihnen. Später grub er voller Eifer mit bloßen Händen Löcher und kleine Höhlen, suchte die größeren Steine aus der Erde, schleppte sie an den Rand, baute Dämme, Wälle und formte ein winziges Bewässerungssystem. Für seine Umgebung hatte er keinen Blick. Maung Sein hätte stundenlang auf einem anderen Feld arbeiten können, Thar Thar hätte es nicht bemerkt. Es rührte Maung Sein zu sehen, wie tief sein Sohn in seine Arbeit versunken war. Mit welcher Hingabe er ohne zu klagen jedes Mal aufs Neue Gräben und Befestigungen erschuf, wenn ein Regenschauer sie fortgespült hatte.
Mittags hockten sie gemeinsam im Schatten des Unterstandes, aßen ihren Reis, tranken Wasser und blickten wortlos über das Feld und auf die grünen Berge in der Ferne. Sie hörten nichts außer ihrem eigenen Atem und in der Regenzeit das Rauschen eines Baches. Manchmal landete ein großer schwarzer Vogel mit einem langen, spitzen Schnabel nicht weit von ihrem Rastplatz. Er stolzierte auf und ab und blickte begierig auf die Reiskörner, die ihnen neben die Schale fielen. Dann rückte Thar Thar näher an Maung Sein, der ihn schützend in den Arm nahm. Nach dem Essen ruhten sie sich gemeinsam aus, Thar Thar, den Kopf auf der Brust des Vaters, schlief nach wenigen Minuten ein.
In solchen Momenten fragte sich Maung Sein, weshalb Mutter und Sohn nicht zusammenfanden. Gab es Menschen, die einfach nicht zueinander passten? Die sich liebten und trotzdem ohne den anderen glücklicher waren? Bestimmt nicht zwischen Müttern und ihren Kindern. Es brauchte einfach mehr Geduld und Gelassenheit vonseiten Nu Nus.
Auf dem Weg nach Hause waren beide jeden Abend so müde, dass Maung Sein seinen Sohn den ganzen Weg tragen und vor Erschöpfung mehrere Pausen einlegen musste. Zweimal passierte es, dass sie am Wegesrand Arm in Arm einschliefen und nur nach Hause kamen, weil andere Bauern sie weckten.
12
V ielleicht wäre vieles anders gekommen, wenn Maung Se in zu Hause geblieben wäre. Vielleicht hätte die Nähe und Verbundenheit zu seinem Vater Thar Thar auf Dauer jene Ruhe und Sicherheit gegeben, die er bei seiner Mutter nicht fand.
Vielleicht hätte sie seinem Herzen geholfen zu vergessen.
Doch zwei viel zu trockene Regenzeiten und Maung Seins Ungeschick als Bauer genügten, um aus seinem ohnehin ertragsarmen Feld einen wertlosen Acker zu machen. Egal wie sehr er sich plagte, Nu Nu und die Kinder schliefen immer häufiger hungrig ein.
»Ich muss eine andere Arbeit finden«, sagte er eines Abends, als die Kinder schliefen und sie am Feuer saßen.
Wie oft hatte Nu Nu in den vergangenen Monaten diesen Satz gefürchtet. Und insgeheim gedacht.
»Was für eine Arbeit?«, fragte sie vorsichtig. Im Dorf gab es ausschließlich Bauern.
»Als Holzfäller.«
Es war die einzige Antwort, die Sinn machte. Trotzdem wollte sie das Wort nicht hören.
»Vielleicht brauchen die Nachbarn einen Helfer?«, sagte sie ohne große Überzeugung.
»Bestimmt könnten sie den gebrauchen. Aber wovon sollen sie mich bezahlen?«
»Vielleicht könntest du …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, weil er kein Ende kannte. Sie wusste, dass es im Dorf keine Arbeit für ihn gab.
Sie schwiegen lange.
Nu Nu wollte nicht, dass er fortging. Alles in ihr sträubte sich bei dem Gedanken. Sie vermisste ihn schon, wenn er einen ganzen Tag auf dem Feld arbeitete und sie mit Ko Gyi im Dorf blieb. Sie hatte seit ihrer Hochzeit nicht eine Nacht ohne ihn verbracht. Sie brauchte ihn zum Einschlafen. Sie brauchte ihn am Morgen, um ihre Kraft für den Tag zu finden. Sie brauchte sein Lachen. Seinen Gleichmut. Seinen Glauben, dass wir den Launen des Schicksals
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