Herzenstimmen
Feldmaus. Er presste sie zusammen, wie er es auch früher oft gemacht hatte. Seine Augen sahen müde aus. Täuschte er sich, oder waren da erste Falten an ihren Rändern zu erkennen? Es war nicht die Müdigkeit eines Kindes nach einem langen Tag, die Maung Sein darin sah, es war die Erschöpfung eines traurigen, einsamen Erwachsenen.
»Außerdem braucht Mama deine Hilfe, wenn ich nicht da bin.«
»Sie braucht mich nicht.«
»Oh doch«, widersprach Maung Sein. »Da irrst du dich. Sie hat mir erzählt, wie fleißig du bist und wie sehr du ihr hilfst. Das ist sehr lieb von dir.«
»Mama hat Ko Gyi. Sie. Braucht. Mich. Nicht.«
Maung Sein musste zweimal schlucken. Er wollte etwas antworten, aber ihm fiel nichts ein. Es war die Art, wie er das sagte, worüber Maung Sein am meisten erschrak. Ernst und kühl.
Wenn er sich wenigstens beklagt hätte.
14
S ie wollte ihn überraschen. Ihm und den Kindern eine klei ne Freude machen. Mehr nicht. Seinen Söhnen, denen jeder Abschied von ihm so schwerfiel. Besonders Thar Thar, der sich nichts sehnlicher wünschte, als einmal mitzukommen, wenn sein Vater auf Reisen ging, sollte sehen, was für einer schwierigen und gefährlichen Arbeit Maung Sein nachging.
Einer der letzten hohen Bäume im Dorf musste gefällt werden. Er stand an der großen Kreuzung, Käfer hatten seinen Stamm zerfressen, er war alt und morsch und drohte beim nächsten Sturm auf die umstehenden Häuser zu stürzen. Bevor sie ihn fällen konnten, musste jemand seine Krone beschneiden, da sie sonst am Ende der Straße auf Hütten fallen würde.
Maung Sein war der erfahrenste Holzfäller im Dorf. Er meldete sich freiwillig.
Die Männer staunten, wie behände er mit einer Säge über der Schulter den Baum erklomm. Er kletterte bis in die Spitze. Sie sperrten die Straße ab, er begann zu sägen, und niemand konnte später genau sagen, was dann geschah. Ein erster Ast kam heruntergerauscht. Dann ein zweiter. Plötzlich hörten sie es knacken und rascheln, zunächst leise, dann immer lauter. Alle starrten in die Höhe, manche hielten die Luft an, aus einigen Mündern ertönten helle, kurze Schreie. Der dumpfe Ton des Aufpralls. Niemand, der dabei war, würde ihn je vergessen.
Die meisten Dorfbewohner waren überzeugt, der Geist, der in jedem Baum lebt, hätte ihn aus Rache aus der Krone gestoßen. Andere dachten, er sei auf einen morschen Ast getreten. Mancher glaubte gesehen zu haben, wie er sich zu weit nach vorne beugte, um einem angesägten Zweig, der nicht fallen wollte, einen letzten Tritt zu geben. Einige wenige behaupteten, er hätte sich aus Leichtsinn nicht richtig festgehalten und sein Gleichgewicht verloren. Oder er sei einen Moment lang einfach unachtsam gewesen.
Einig waren sich alle, dass niemand etwas dafürkonnte. Ein tragisches Unglück. Eine Fügung des Schicksals. Jeder hat das Karma, das er verdient.
Nu Nu wusste es besser.
Es war ihre Schuld. Sie hatten ihn abgelenkt. Schon von Weitem hatte sie ihn in der Krone des mächtigen Baumes sitzen sehen. Dreißig, vielleicht vierzig Meter hoch, zwei große Äste hatte er bereits herausgesägt, ein schwarzer Punkt zwischen den grünen Blättern.
Sie deutete für ihre Söhne auf ihn, zeigte so lange mit dem Finger, bis sie ihn entdeckten. Sie schauten voller Stolz in die Höhe und wären am liebsten sofort zu ihrem Vater gerannt.
Als sie an die Absperrung gelangten, blickten alle drei hinauf, erkannten ihn deutlich zwischen den Ästen und riefen wie aus einem Munde seinen Namen. Er hatte sie noch nicht bemerkt und schaute überrascht nach unten.
Sie winkten ihm zu.
Er winkte zurück.
Die Kinder hüpften und winkten und klatschten vor Freude.
Er beugte sich vor, um sie besser sehen zu können. Winkte. Mit beiden Händen.
Dann knackte und raschelte es in der Krone des Baumes.
15
E s dauerte zwei Jahre. Zwei Jahre, von denen Nu Nu später nicht mehr sagen konnte, wie sie sie überlebt hatte. Zwei Jahre, in denen kaum ein Tag verging, an dem sie nicht fürchtete, dem Wahnsinn zu verfallen. Kein Tag, an dem sie sich nicht fragte, warum ausgerechnet ihr dieses Unglück zustoßen musste. Was hatte sie getan, um das Schicksal einer jungen Witwe zu verdienen? Warum hatte es nicht die missgünstige Frau des Dorfvorstehers getroffen? Oder das geizige, streitsüchtige Weib des Reishändlers? Warum ausgerechnet sie mit ihren zwei kleinen Kindern? Warum war das Leben so ungerecht?
Es gab viele Wochen, in denen sie die Hütte nicht verließ und sich
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