Herzenstimmen
kaum von ihrer Schlafstätte erhob. Keine Wäsche wusch. Ihren Söhnen keine Mahlzeiten kochte. Nicht einmal die Gaben für die Mönche bereitete sie zu. Sie wachte in der Nacht und schlief am Tage. Hin und wieder glaubte sie, alles nur geträumt zu haben, und machte sich auf die Suche nach ihrem Mann. Dann streunte sie in Begleitung von Ko Gyi im Dorf umher mit leerem Blick, schmutzigem Longy und zerzausten Haaren. Ihre Wanderungen endeten jedes Mal an dem von Käfern zerfressenen Baumstumpf an der großen Kreuzung. Dort hockte sie sich in den Staub und erinnerte sich.
Sah ihn winken.
Mit beiden Händen.
Irgendwann kam dann Thar Thar, nahm sie an die Hand und führte beide stumm nach Hause.
Die Brüder reagierten ganz unterschiedlich auf den Tod ihres Vaters. Ko Gyi klammerte sich an die Mutter. Er schlief neben ihr. Am Tag ließ er sie nicht aus den Augen. Er bat sie aufzustehen, wenn sie einfach liegen blieb. Er bettelte, sie möge etwas sagen, wenn sie tagelang schwieg. Folgte ihr auf Schritt und Tritt, sobald sie das Haus verließ. Als fürchte er, nach dem Vater nun auch noch die Mutter zu verlieren. Die meiste Zeit jedoch hockte er einfach schweigend neben ihr und wartete.
Und wartete.
Thar Thar hingegen, von einer inneren Unruhe getrieben, war von morgens bis abends unterwegs.
Er holte Wasser vom Brunnen und achtete darauf, dass seine Mutter und sein Bruder genug tranken und zumindest einmal am Tag etwas aßen. Er kümmerte sich um die Hühner. Er ging regelmäßig mit einem Bottich voll Wäsche, der so schwer war, dass er ihn kaum tragen konnte, an den Fluss, stellte sich abseits der Frauen ins Wasser, schleppte die nassen, nun noch schwereren Sachen nach Hause und hängte sie zum Trocknen über die Veranda. Er lief zum Markt und kaufte Reis, und wenn der letzte Kyat ausgegeben war, schlüpfte er durch die Hecke zu den Nachbarn und bat um Hilfe. Er pflegte und erntete die Tomaten und pflanzte zusätzliches Gemüse hinter dem Haus. Er kochte jeden Tag. Seine Currys schmeckten gut, besser als ihre.
Nu Nu war es ein Rätsel, woher ihr achtjähriger Sohn die Kraft nahm. Manchmal fragte sie sich, ob womöglich mit dem Tod Maung Seins ein wenig von dessen Energie, Fürsorge und Liebe aufThar Thar übergegangen war.
Eines Nachmittags, seit Maung Seins Tod waren mehr als zwei Jahre vergangen, lag sie erschöpft auf ihrer Decke und sah zu, mit welcher Sorgfalt Thar Thar das Gemüse putzte, das Feuer am Lodern hielt, sich um Holz und Reisig kümmerte. Dabei löste er mit einer ungeschickten Handbewegung aus Versehen den Wasserkessel aus seiner Verankerung, der polternd in die Flammen fiel. Thar Thar verschwand hinter einer Wolke aus weißem Dampf, das Feuer erlosch unter lautem Zischen. Er betrachtete das Malheur, seufzte einmal kurz und begann das trockene Holz vom feuchten zu trennen. Er ging in den Hof, holte Späne und kleine Zweige und entzündete in aller Ruhe ein neues, um Wasser für den Reis aufzusetzen. Der große Bottich vor dem Haus war leer, er musste bis zum Brunnen im Dorf laufen.
Nu Nu bewunderte seine Gelassenheit. Sie hätte sich mit Sicherheit über ihre Ungeschicklichkeit aufgeregt. Wäre ärgerlich geworden. Hätte sich entmutigt auf ihre Schlafmatte zurückgezogen. Was war mit Thar Thar geschehen? Wo war der impulsive, wütende Junge geblieben, der am liebsten seine Zeit allein oder bei den Hühnern im Stall verbrachte?
Was hatte der Unfall seines Vaters mit der Kinderseele gemacht? Was hatte er sie gelehrt?
Sie dachte an Maung Sein. Ihr Mann war tot. Daran konnte sie nichts ändern. Aber ob sie daran verzweifelte oder nicht, ob sie daran zerbrach, das lag allein in ihrer Hand.
Nu Nu richtete sich auf und versuchte aufzustehen. Es fiel ihr leichter als gedacht. Sie zog sich einen sauberen Longy an, ging zum Feuer und legte ein Stück Holz nach. Sie sah, wie es zu glimmen begann und irgendwann Feuer fing. Nu Nu hockte sich daneben, hob zögernd das kleine Messer auf, prüfte die Klinge. Jemand musste sie geschärft haben. Sie nahm ein Holzbrett, zerteilte etwas ungeschickt Frühlingszwiebeln und Tomaten, schnitt Zucchini und Karotten in Scheiben, schälte und würfelte den Ingwer. Mit jeder Bewegung ging ihr die Arbeit leichter von der Hand, fühlte sie sich besser. Der scharfe Ge ruch des frischen Ingwers stieg ihr in die Nase. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr gerochen?
Ko Gyi saß daneben und beobachtete sie sprachlos.
Plötzlich stand Thar Thar mit einem Eimer Wasser hinter
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