Herzenstimmen
ihr.
»Was machst du da?«, fragte er überrascht.
»Ich helfe dir«, antwortete sie.
Er dankte ihr mit einem Lächeln.
Sie setzten Reis und Gemüse auf, gingen zu dritt in den Hof, um das Blechgeschirr zu säubern und Wasser für Tee zu holen.
Erst jetzt bemerkte sie, dass in einer Ecke der Hütte das Dach eingebrochen war und herunterhing. Die Bretter darunter waren vom Regen feucht und morsch geworden. Die nächste Regenzeit würde dieser Teil der Hütte nicht überstehen. Nu Nu schaute sich im Hof um. Er war sauber gefegt. In den Beeten wuchsen große Tomaten, Thar Thar hatte daneben noch Karotten und Auberginen gepflanzt und gewissenhaft Unkraut gejätet. Die Bananenstauden hingen voller Früchte, ebenso der Papaya- und der Avocadobaum. Doch die Bougainvillea hatte die Pforte zum Hof vollständig überwuchert, und an einem Loch in der Hecke erkannte sie, welchen Ausgang ihr Sohn jetzt benutzte.
Und sie fragte sich, warum sie nichts von den Hühnern sah oder hörte.
»Wo sind denn die Hühner?«
Thar Thar schluckte und senkte den Blick. »Im Stall.«
»Bist du sicher? Sie sind so ruhig.«
Er nickte, ohne sie anzuschauen.
Nu Nu ging zum Stall und horchte. Als sie nichts hörte, hockte sie sich hin und warf einen Blick durch die Luke. In einer Ecke entdeckte sie drei Tiere.
»Wo sind die anderen?«, fragte sie verwundert und richtete sich wieder auf.
»Weg«, flüsterte Thar Thar und wandte sich ab.
»Was heißt weg? Sind sie fortgelaufen? Haben die Hunde sie gerissen?« Nu Nu wusste, was die Hühner ihrem Sohn bedeuteten, und wunderte sich, dass er nicht besser auf sie achtgegeben hatte.
Thar Thar schüttelte stumm den Kopf.
Nu Nu schaute verwirrt von einem Sohn zum anderen.
»Er hat sie verkauft«, sagte Ko Gyi mit gedämpfter Stimme. »Eins nach dem anderen.«
»Verkauft?«
Thar Thar schwieg noch immer und blickte zu Boden. Sie legte eine Hand unter sein Kinn und hob behutsam seinen Kopf. Zwei Tränen rannen ihm die Wangen hinunter. Seine Unterlippe zitterte. Er schloss die Augen, die Tränen wurden mehr.
»Warum?«
Schweigen.
»Warum?«
Ein tiefes, kaum zu ertragendes Schweigen war die Antwort.
»Weil die Nachbarn uns kein Geld und keinen Reis mehr leihen wollten«, murmelte Ko Gyi.
»Weil wir sonst verhungert wären«, sagte Thar Thar, drehte sich um und rannte so schnell er konnte zurück ins Haus.
Nu Nu versuchte noch immer zu verstehen, was geschehen war. Eine Ahnung beschlich sie, so traurig, dass sie sie gleich wieder vergessen wollte. »Aber die Nachbarn haben ihre eigenen Hühner«, sagte sie und warf Ko Gyi einen fragenden Blick zu. »Es macht keinen Sinn. Kannst du es mir erklären?«
Er nickte. »Das stimmt. Sie wollten sie nicht und haben ihm keinen guten Preis geboten.« Er machte eine lange Pause. Leise, ganz leise fuhr er fort: »Er hat sie geschlachtet, gerupft, zerlegt und auf dem Markt verkauft.«
16
A ls Nu Nu im Morgengrauen erwachte, hörte sie bereits jemanden mit den Töpfen hantieren. Es war noch fast dunkel, aber die Vögel zwitscherten bereits unüberhörbar. Sie drehte sich um, neben ihr schlief Ko Gyi. Kurz darauf vernahm sie die Mönche am Gartentor und fragte sich, warum sie nicht längst aufgehört hatten, bei ihnen um Gaben zu bitten, wo doch ohnehin nichts zu holen war. Nu Nu sah Thar Thar mit der großen Reisschale in den Händen die Treppe hinuntereilen. Hatte er gegeben? All die Monate? Wo mochte er den Reis nur herbekommen haben, wenn es doch schon bei ihnen kaum reichte? Sie war zu müde, um über diese Fragen lange nachzudenken, und schlief wieder ein.
Als sie wieder erwachte, war es hell, die Vögel waren verstummt. Sie stand auf, Ko Gyi schlief noch, neben dem Feuer standen Reis und ein lauwarmes Curry.
Von Thar Thar fehlte jede Spur. Erschrocken lief sie in den Hof und schaute im Hühnerstall nach. Die drei Hühner glotzten sie an, als sie ihren Kopf durch die Luke steckte.
Plötzlich klang die Stimme ihres Sohnes vom Hof des Nachbarn herüber. Nu Nu zwängte sich durch die Hecke und sah ihn im Schatten eines mächtigen Feigenbaums sitzen. Neben ihm lag ein mannshoher Stapel getrockneter Bambusblätter und Gräser, vor ihm eine geflochtene Matte, an der Thar Thar arbeitete.
»Was machst du da?«, fragte sie überrascht.
»Ich helfe U Zhaw«, erwiderte er halblaut. Als wäre es ihm unangenehm.
»Dein Sohn ist der begabteste Flechter, den ich je gesehen habe«, rief die Frau des Nachbarn und kam hinter dem Haus hervor. »Und der
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