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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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fleißigste«, ergänzte sie und warf dabei Nu Nu einen Blick zu, der besagte: ganz und gar erstaunlich bei der Mutter. »Für eine Dachhälfte braucht er nicht einmal drei Tage.«
    Nu Nu beobachtete ihren Sohn; erst jetzt fiel ihr auf, wie geschickt seine Finger sich bewegten, wie flink sie die großen Blätter und Gräserbüschel miteinander verwoben. Sie sah das neue Dach der Nachbarn und eine gerade fertiggestellte Hälfte, die an einem Baum lehnte.
    »Euer Haus sieht gut aus«, sagte sie misstrauisch und deutete aufThar Thars Arbeit. »Für wen ist die?«
    »Die verkaufen wir.«
    »Verkaufen? An wen?
    »Wer es braucht.«
    »Für wie viel?«
    »Zweihundert Kyat.«
    »Wie viel bekommt mein Sohn?«
    »Zwanzig. Er arbeitet das Geld ab, das wir euch geliehen haben.«
    »Zwanzig Kyat?« Nu Nu fiel es schwer, ihre Empörung zu verbergen. Sie suchte den Blick Thar Thars, der aber hielt die Augen gesenkt.
    »Wie lange noch?«, wollte sie wissen.
    Die Frau rechnete. »Wenn er in dem Tempo weitermacht, höchstens noch vier Wochen.«
    Am Abend fielen ihr die schwieligen Hände ihres Sohnes auf. Die Nägel waren eingerissen, die Fingerkuppen gerötet und an manchen Stellen blutig. Sie hockten mit Ko Gyi am Feuer, Nu Nu wollte vieles wissen, doch Thar Thar mochte sich nicht erklären. Seit wann er bei den Nachbarn arbeitete? Wann genau das Geld, das Maung Sein als Holzfäller gespart hatte, zu Ende gegangen war? Ob sie noch woanders Schulden hatten? Statt zu antworten, stocherte er mit einem Stock in der Glut herum.
    Nu Nu fragte sich, wovon sie in Zukunft leben sollten. Selbst wenn sie alle drei anfingen, Matten für Dächer und Wände zu flechten, würde es bei dem kargen Lohn nicht reichen. Die wenigen Ersparnisse waren aufgebraucht, es gab, abgesehen von den letzten drei Hühnern und Maung Seins rostigen Werkzeugen, nichts mehr, was sie verkaufen konnten. Ihr Acker lag brach. Keiner von ihnen besaß genügend Erfahrung als Bauer. Alle Verwandten, die ihnen möglicherweise helfen würden, lebten zu weit entfernt. Auf die Unterstützung des Dorfes konnten sie nicht zählen. Das Schicksal der Familie war ihr schlechtes Karma, das sie durch Missetaten angehäuft hatte und das es jetzt zu erdulden galt. Hilfe aus Mitleid oder Mitgefühl war in den Augen der anderen völlig unangemessen. Nu Nu wusste das. Sie würde sich nicht anders verhalten.
    »Wir müssen unser Feld bewirtschaften«, sagte Thar Thar plötzlich, als hätte er ihre Gedanken erraten.
    Nu Nu nickte. »Aber wie?«
    »Wie die anderen auch«, erwiderte er. »Wie sonst?«
    »Es ist nicht so leicht, glaub mir.«
    »Ich weiß. Aber ich habe immer beobachtet, wie Papa es macht.«
    »Das ist lange her.«
    »Ein bisschen erinnere ich noch.«
    »Das wird nicht reichen.«
    »Wir müssen es versuchen«, mischte sich Ko Gyi ein.
    »Das Feld ist groß genug. Wenn wir es richtig machen, ernährt es uns«, stimmte Thar Thar seinem Bruder zu.
    Nu Nu schaute von einem zum anderen. Zwei Kinder mit ernsten Gesichtszügen, die schon viel zu viel vom Leben wussten. Ahnten sie, was sie da sagten? Welche Herausforderungen ihnen bevorstanden? Bisher waren sie kaum in der Lage gewesen, zusammen Mahlzeiten einzunehmen. Wie sollten sie gemeinsam ein verwildertes Feld bestellen?
    Der Acker sah noch schlimmer aus, als Nu Nu befürchtet hatte. Er war übersät mit Unkraut, ein Teppich, der in den verschiedensten Grüntönen in der Sonne strahlte. Von dem Bewässerungssystem, das Maung Sein so sorgfältig angelegt hatte, war nach den vergangenen Regenzeiten nichts mehr zu sehen. Die Sonne brannte vom Himmel, der Unterstand, den ihr Mann gebaut hatte, war eingefallen. Nu Nu verharrte wie gelähmt auf einer Böschung und starrte entmutigt in die Landschaft. Wie sollten sie dieses Stück Erde je wieder fruchtbar machen können? Vier Wochen hatten sie Zeit, spätestens dann musste die Saat ausgebracht werden. Vier Wochen. Sie bräuchten mehr als ein Dutzend Hände, um überhaupt eine Chance zu haben. Wovon sollte sie ihre Kinder ernähren, wenn sie es nicht schafften? Feuerholz sammeln und verkaufen? Körbe aus Bambus flechten? Während sie überlegte, ob es nicht besser wäre umzukehren und das Land für ein wenig Geld zu verpachten, begannen ihre Söhne mit der Arbeit. Sie knoteten ihre Longys hoch, mit bloßen Händen rupften sie das Unkraut heraus und gruben die Erde um. Nach kurzer Zeit bluteten Ko Gyis Finger von der ungewohnten Arbeit.
    Am Abend lag ein großer Haufen Unkraut am Wegesrand.

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