Herzenstimmen
Vater würde so plötzlich wieder verschwinden, wie er gekommen war. Er machte einen Schritt auf ihn zu, zögerte kurz, wandte sich ab, lief hinter die Hütte und verkroch sich. Trotz vieler Rufe und Bitten kam er erst am Abend aus seinem Versteck. Am nächsten Tag ignorierte er seinen Vater vollständig. Am zweiten Tag schaute er ihn an, aber sagte kein Wort. Am dritten Tag stellte er ihm eine Frage: Wie lange bleibst du?
Als er die Antwort hörte, verfiel er wieder in sein Schweigen.
Auch in den folgenden Tagen entzog sich Thar Thar jedem Versuch seines Vaters, sich ihm zu nähern. Zwar begleitete er ihn aufs Feld und verrichtete dort gewissenhaft die Arbeit, die Maung Sein ihm auftrug. Jätete Unkraut, grub Erde um, säte aus. Und sprach dabei kein Wort.
Alles in allem wechselten sie nicht mehr als ein paar Sätze.
Am letzten Abend musste Maung Sein lange suchen, bis er seinen Sohn im Hühnerstall fand. Da er auch nach mehrmaligem Bitten nicht herauskam, zwängte sich Maung Sein durch ein viel zu kleines Loch, in dem er beinahe stecken geblieben wäre, in das Innere. In einer Ecke auf einem Lager aus Stroh lag Thar Thar. Um ihn herum gackerten Hühner, die sich über den ungewohnten Besucher aufregten. Kleine braune Federn flatterten durch die Luft, es war heiß und stickig und stank nach Hühnerkacke. Maung Sein fragte sich, wie sein Sohn es hier drinnen aushielt, legte sich neben ihn und wartete.
»Warum versteckst du dich?«, fragte er nach einer Weile.
»Ich verstecke mich nicht.«
»Was machst du dann hier?«
»Ich besuche meine Freunde.«
»Die Hühner?«, fragte Maung Sein überrascht.
»Ja. Sie mögen mich.« Er streckte einen Arm aus, sofort kam eines der Tiere angelaufen und pickte ihm mit dem Schnabel in die Hand. Das war keine gierige Futtersuche, sondern sah aus wie ein zärtliches Knabbern. Über Thar Thars Gesicht flog ein seltenes Lächeln. »Siehst du?«
Maung Sein nickte. »Mama sagt, du bist oft im Stall.«
»Ja. Manchmal schlafe ich auch hier.«
»Warum?«
»Weil es schön ist. Weil sie meine Freunde sind. Weil sie mich brauchen und mich manchmal bitten, bei ihnen zu bleiben.«
»Du sprichst mit ihnen?«
»Natürlich. Ich kenne alle ihre Namen.«
»Sie haben Namen?«, wunderte sich Maung Sein.
»Ich habe sie ihnen gegeben. Das ist Koko.« Er zeigte auf ein braunes, schmächtiges Tier. »Ihre Eier schmecken am besten. Das ist Mo, die ist die frechste, und da drüben sitzt Mimi. Sie hört mir am liebsten zu.«
»Was erzählst du ihnen denn?«
»Alles.«
»Hören sie auf dich?«
»Selbstverständlich.« Sein Sohn gab einen merkwürdigen Laut von sich, und sofort hielten alle Hühner inne. Aus der hintersten Ecke kam Mimi heranstolziert, Thar Thar streckte dem Tier die Hand entgegen, und es begann ebenfalls, behutsam daran zu picken.
Maung Sein tat es ihm gleich, doch kaum hatte er den Arm bewegt, flatterten die Tiere erschrocken davon und verkrochen sich. Ein paar Worte seines Sohnes genügten, und sie beruhigten sich wieder.
»Mama mögen sie auch nicht.« Ein zweites Lächeln. Noch seltener.
Maung Sein freute sich, dass die Tiere seinen Sohn gesprächiger machten, und hoffte, dass es so bleiben würde, obwohl er nicht wirklich wusste, worüber er mit ihm sprechen sollte. Er wollte einfach nur reden, die Stimme Thar Thars hören, bevor er wieder fuhr. Er wartete lange auf eine weitere Erklärung, doch im Hühnerstall wurde es wieder still.
»Ich fahre morgen wieder«, sagte Maung Sein schließlich.
Sein Sohn schaute stumm an die Decke.
»Morgen, noch bevor die Sonne aufgeht. Du schläfst dann noch.«
»Ich will mit«, sagte Thar Thar plötzlich.
Ein zweites Huhn kam angelaufen und knabberte an seinen nackten Füßen. Nun war es Maung Sein, der lange schwieg. Er überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, ihn mitzunehmen, aber ein Holzfällercamp war kein Ort für Kinder. »Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich viel unterwegs bin und die ganze Zeit arbeiten muss.«
»Ich kann dir helfen.«
Maung Sein lächelte. »Das wäre schön. Aber Bäume fällen ist nicht leicht und auch ein bisschen gefährlich.«
»Ich habe keine Angst.«
»Ich weiß. Wenn du etwas größer bist, kommst du mit. Versprochen.«
Thar Thar erwiderte nichts. Maung Sein betrachtete ihn schweigend, und je länger er ihn anschaute, desto trauriger wurde er. Im Schein der Kerze hatte das Gesicht seines Sohnes alle kindlichen Züge verloren. Die Lippen waren dünn wie der Schwanz einer
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