Herzenstimmen
Auf dem Feld hatten sie trotzdem kaum sichtbare Spuren hinterlassen. Nu Nu hatte das Gefühl, einen Eimer Wasser aus einem See geschöpft zu haben. Es war sinnlos, was sie taten. Vollkommen sinnlos. Sie musste sich etwas anderes überlegen.
Am nächsten Morgen rüttelte Thar Thar sanft an ihrer Schulter. Er hatte bereits alles vorbereitet. Den Proviant gepackt, Tee gekocht, Wasser geholt, die Werkzeuge gesäubert, wozu sie am Abend zu erschöpft gewesen waren. Nu Nu zögerte. Warum sollten sie sich weiter quälen, sie hatten keine Chance. Aber weil ihr nichts Besseres einfiel, folgte sie ihren Kindern aufs Feld.
Gegen Mittag waren die Hände ihrer Söhne so geschwollen, dass sie bei jeder Bewegung das Gesicht verzogen. Aufhören wollten sie trotzdem nicht. Zu den Pausen musste sie die beiden zwingen. Mit stechenden Kopfschmerzen kehrten sie zurück in ihre Hütte.
Am dritten Tag taten Nu Nu die Arme und Beine so weh, dass sie sich kaum bewegen konnte. Jeder Muskel im Körper schmerzte. Auch Ko Gyi war deutlich langsamer als an den Tagen zuvor.
Als sie nach einer Woche im Morgengrauen zu ihrem Acker gingen, fiel ihnen der Unkrauthaufen schon von Weitem auf, so sehr war er angewachsen. Nu Nu blickte über das Land, und zum ersten Mal entdeckte sie eine sichtbare Veränderung: Eine Ecke des Feldes leuchtete tiefschwarz in der aufgehenden Sonne.
Nach zwei Wochen richteten sie den Unterstand notdürftig wieder her und beschlossen, die kommenden Tage dort zu übernachten, um keine Zeit mit den langen Wegen zu verlieren. Nu Nu bezweifelte noch immer, dass sie es schaffen würden, doch der Optimismus und der Eifer ihrer Söhne hatte Spuren hinterlassen. Wenn sie Ko Gyi und Thar Thar auf dem Feld Hand in Hand arbeiten sah, hatte sie mehr und mehr das Gefühl, alles sei möglich. Sie durften sich nur nicht entmutigen lassen.
Und sie entdeckte Zeichen, deren Deutlichkeit sie nicht ignorieren konnte. Ausgerechnet das dünnste und schwächste ihrer drei Hühner hatte an dem Tag, an dem sie mit ihrer Arbeit begannen, ein Küken ausgebrütet. Es war so klein, dass Nu Nu sicher war, es würde den Tag nicht überleben. Doch es wuchs und gedieh.
An den Bananenstauden sprossen ungewöhnlich viele Triebe für diese Jahreszeit.
Am meisten zu denken gab ihr der Vorfall mit der Schlange. Sie hatte an einem Morgen, als sie unterwegs aufs Feld waren, mitten auf dem Weg gelegen. Das allein war schon ungewöhnlich für die scheuen Tiere. Sie ließ Thar Thar bis auf wenige Meter herankommen, ohne die Flucht zu ergreifen. Noch ungewöhnlicher. Sie hob kurz den Kopf, starrte Nu Nu und ihre Söhne an, und statt nun im Gebüsch zu verschwinden, drehte sie sich um und schlängelte sich durch das Gras, als wollte sie ihnen den Weg weisen. Sie folgten dem Tier, und erst kurz vor ihrem Feld wandte es sich noch einmal um, hielt inne und verschwand dann langsam im hohen Gras.
Die Zeichen trogen nicht: Nach vier Wochen war der grüne Teppich verschwunden. Sie standen zu dritt auf dem Feld, die Arme bis zu den Ellenbogen schwarz, die Longys verschwitzt und verdreckt. Stumm schauten sie umher, als könnten sie es selbst nicht glauben. Es duftete nach frischer, feuchter, fruchtbarer Erde. Nu Nu kniete nieder und griff mit beiden Händen hinein. Sie reichte Thar Thar einen Klumpen. Der roch daran, lächelte und zerrieb ihn langsam zwischen seinen Fingern. Fast hatte sie das Gefühl, er streichle die Erde.
Was hatte die Hebamme ihr einst erklärt? Eine Kinderseele weiß alles. Ob sie verzeiht, hatte sie nicht gesagt.
Doch es galt, keine Zeit zu verlieren. Sie hatten sich Geld geliehen und Samen für Blumenkohl, Kartoffeln und Sojabohnen gekauft, die so schnell wie möglich in die Erde mussten. Als sie am nächsten Tag zurückkehrten, hatten Ratten und Vögel die Hälfte der Aussaat geraubt. Wieder übernachteten sie auf dem Feld, verscheuchten die Tiere, arbeiteten, so lange die Sonne es ihnen erlaubte. Setzten Samen neben Samen, Sprössling neben Sprössling. Zogen Furchen. Um die Geister des Feldes gnädig zu stimmen, bauten sie einen kleinen Altar, auf dem sie täglich eine Banane und ein Häufchen Tee opferten.
Natur und Geister meinten es gut mit ihnen. Der Regen kam pünktlich in diesem Jahr und in der richtigen Menge. Auch die anderen Bauern konnten sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal eine so gute Ernte gehabt hatten. Nu Nu lieh sich sogar einen Wasserbüffel mit Karren, um das Gemüse vom Feld ins Dorf zu bringen. Ko Gyi saß stolz
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