Herzenstimmen
das?«
»Hin und wieder kommt einer lebend zurück.«
Ich lehnte mich zurück, mein Blick schweifte durch das Teehaus, als könnte ich hier eine Bestätigung finden für die Ungeheuerlichkeiten, die ich gerade erfuhr. Am anderen Ende hockten drei Männer und unterhielten sich lebhaft. Ab und zu spuckte einer von ihnen roten Betelnusssaft ins Gras. Ich zuckte jedes Mal zusammen. Daneben saß ein junges Paar, flüsternd, schüchtern verliebt. Die Kellnerin fegte in Gedanken versunken den Boden zwischen den leeren Tischen. Unter dem Altar mit der goldglänzenden Buddhafigur und den Blumen hatte die Köchin ihren Kopf auf den Tisch gelegt und schlief. Wussten sie, was ich wusste? Vermutlich.
Vielleicht hatten sie sogar einen Bruder, Schwager, Neffen, Onkel, der im Dschungel nach Minen suchen musste. Eine gefunden hatte.
Oder trug einer ihrer Brüder, Schwäger, Neffen oder Onkel schwarze, blank polierte Stiefel?
Ich verstand plötzlich, wie wenig ich wusste vom Heimatland meines Vaters. Wie fremd es mir war. Wie wenig ich in den lachenden Gesichtern der Menschen lesen konnte.
»Was denkst du?«, wollte U Ba wissen.
»Wie wenig ich weiß von diesem Land.«
»Du irrst«, widersprach er. »Du weißt alles, was man wissen muss.«
»Wie meinst du das?«, erwiderte ich überrascht.
»Später.«
Er machte ein eigenwilliges Geräusch mit den Lippen, eine Art lang gezogenen Luftkuss, die Kellnerin blickte sofort in unsere Richtung. Mein Bruder schob einen abgegriffenen Tausend-Kyat-Schein unter eines der Teegläser und stand auf.
Es war dunkel geworden. Wir liefen schweigend die Straße hinunter. Vor einem Teehaus stand ein großer Fernseher, es wurde ein Fußballspiel übertragen, davor saßen zwei Dutzend junge Männer und fieberten mit. Ich musste an Nu Nu und ihre Söhne denken.
»U Ba?« Ich hoffte an seiner Stimme zu erkennen, ob er bereit war, mir weiter zu erzählen.
»Was möchtest du wissen?«
»Was haben Nu Nu und Ko Gyi ohne Thar Thar gemacht?«
»Sie haben versucht, zusammen zu überleben. Es ist ihnen nicht gelungen.«
»Ist Ko Gyi auch tot?«
»Nein, aber die beiden, die fünfzehn Jahre unzertrennlich waren, fingen plötzlich an zu streiten. Seltsam, oder? Der brave Ko Gyi vernachlässigte seine Pflichten. Er weigerte sich, mit seiner Mutter aufs Feld zu gehen, stattdessen fuhr er lieber auf Pagodenfeste in andere Dörferund kehrte stets betrunken zurück.
Khin Khin glaubt, dass er nie den Schock überwunden hat, zu erleben, wozu seine Mutter fähig war. Sie wurde ihm fremd und unheimlich. In seiner Trunkenheit sagte er oft, Thar Thar würde ihn verfolgen. Er säße mit am Feuer. Er sei dabei, wenn sie auf den Markt gingen, wenn sie kochten und aßen. Er wurde immer schweigsamer, und am Ende wünschte er sich, sie hätte seinen Bruder behalten und nicht ihn. Nach drei Jahren war ein Großteil des Feldes wieder überwuchert, die Hütte verfiel, und Ko Gyi beschloss, in die nächste Stadt zu gehen, um nach Arbeit zu suchen.«
Wir hatten U Bas Haus erreicht. Er holte noch Wasser aus dem Hof, zündete Kerzen an und fragte, ob ich noch einen Tee wollte.
Ich lehnte dankend ab und ließ mich auf das Sofa unter dem Ölschinken vom Tower in London fallen. Er sank in den Sessel und erzählte weiter:
»Ko Gyi wanderte bald weiter in die Hauptstadt und fand eine Anstellung als Matrose auf einem Frachter. Dort verdiente er gut und ließ seiner Mutter in unregelmäßigen Abständen Geld zukommen. Nicht viel, aber genug, um zu überleben. Nu Nu zog irgendwann zu ihrer jüngeren Schwester, die keine Kinder hatte und deren Mann früh gestorben war. Zusammen kamen sie vor einigen Jahren nach Kalaw, weil sie hier niemanden kannten und keine Erinnerungen mit dem Ort verbanden. Sie war eine gebrochene Frau.
An dem Tag, an dem ihre Schwester starb, waren Khin Khin und sie auf dem Weg zum Markt. Nu Nu glaubte, in einem jungen Mann, dem sie begegneten, Thar Thar zu erkennen. Das hat sie so aufgeregt, dass ihr Herz aufhörte zu schlagen. Habe ich dir davon nicht in meinem Brief berichtet?«
Ich nickte.
»Khin Khin erzählte, dass Nu Nu seit Jahren bei sehr schlech ter Gesundheit gewesen war. Sie hatte zu phantasieren begonnen, ihr Gedächtnis ließ sie im Stich, häufig ging sie spazieren, ohne den Weg zurück zur Hütte zu finden. Sobald sie Soldaten oder auch nur einen Militärjeep sah, erstarrte sie vor Angst. Den Anblick schwarzer Stiefel ertrug sie nicht. Nachts wachte sie oft auf, schrie laut und ließ sich
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