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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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nichts. Nur meine Söhne.«
    Mein Leben.
    »Ausgeschlossen.«
    Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und blickte an die Decke. Er war kurz davor, mit seinen Gedanken weiterzureisen. Zum nächsten Dorf. Zur nächsten Schlacht. Oder zur Chance auf eine Versetzung aus dem verdammten Rebellengebiet an die Küste. Oder in die Hauptstadt. Er war auf dem Weg, sie war dabei, ihn wieder zu verlieren. Sie spürte es.
    »Ich brauche sie.«
    »Wir auch.«
    »Ohne ihre Hilfe kann ich mein Feld nicht bestellen. Das Gemüse nicht zum Markt bringen.« Bloß nicht von ihrer Liebe reden. Nicht von dem, was eine Mutter empfindet, wenn sie ihre Kinder in den Tod gehen sieht. Nichts interessierte ihn weniger. Den Nutzwert ihrer Söhne betonen, diese Sprache verstand er.
    Nur die.
    »Egal.«
    »Mein Mann ist tot. Ich habe sonst niemanden.« Schnell fügte sie hinzu: »Der mir helfen kann.« Erklären. Nicht bitten. Keinesfalls flehen. Das konnte sie sich für später aufheben.
    Sie ließ ihre Hand langsam die Brust und den Bauch hinuntergleiten, tiefer und tiefer. Dort und nur dort entschied sich das Leben ihrer Söhne.
    Sein ruhiger Atem wurde schneller.
    Anschwellende Glieder lügen nicht.
    Vielleicht hatte sie noch eine Chance.
    Er war ihr erster Mann seit dem Tod von Maung Sein.
    Sie bemühte sich. Ihre Hände arbeiteten und ihr Mund. Ihre Zunge arbeitete und die Spitzen ihrer Finger.
    Seine Haut war rau, seine Stöße hart und ohne Rhythmus, auch beim zweiten Mal.
    Ihr schmächtiger Körper zitterte. Nicht vor Erregung.
    Er lag auf ihr, die Arme durchgedrückt. Speichel rann aus seinem Mund, rot gefärbt vom Saft der Betelnüsse. Tropfen für Tropfen tauchte er ihr Gesicht in die Farben des Todes. Und des Lebens.
    Als er von ihr abließ, war er befriedigt. Sie hörte es an seinem ruhigen Atem. Sie fühlte es an der Art, wie sich sein Körper entspannte.
    »Bitte.« Manchmal genügte nur ein Wort. Fünf Buchstaben reichten, um eine Welt zu beschreiben.
    Er zündete sich eine Zigarette an. Ihre Glut leuchtete bei jedem Zug.
    Bitte.
    Bitte.
    Bitte.
    »Wie viele Söhne hast du?«
    »Zwei.«
    »Gesund?«
    »Ja.«
    »Wie alt?«
    »Sechzehn und fünfzehn.«
    Er überlegte. Sekunden, die über Leben und Tod entschieden.
    »Einen kannst du behalten. Den anderen nehmen wir.«
    »Welchen?«, entfuhr es ihr.
    »Mir egal. Das entscheidest du.«
    So riss er sie entzwei.
    In dieser klaren, monderleuchteten Nacht. Eine kleine Bauersfrau. Ein großes Herz, in dem nicht viel Platz war. Aber ein anderes hatte sie nicht.
    Einen kannst du behalten.
    Den anderen nehmen wir.
    Ko Gyi und Thar Thar. Dem Tod geweiht. Oder dem Leben.
    Sie hatte es ihnen gegeben – sie würde es wieder nehmen müssen.
    Einem von ihnen.

19
    K hin Khin hatte schon vor einer Weile aufgehört zu reden. Nun verstummte auch U Ba. Leise hatte er gesprochen, immer leiser war er geworden, bis er die letzten Sätze nur noch flüsterte und seine Stimme ganz versiegte.
    Ich betrachtete Khin Khin aus den Augenwinkeln. Ihre Falten auf Wangen und Stirn waren noch tiefer geworden, ihre dunklen Augen zu zwei kleinen Knöpfen geschrumpft. An ihrem Hals bemerkte ich jetzt eine ungewöhnlich dicke Ader, in der das Blut heftig pulsierte.
    Mein Bruder hockte neben mir, zusammengesunken, den Kopf gesenkt. Er warf mir einen kurzen Blick zu, in seinen Augen standen Tränen. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment zu platzen. In den vergangenen Stunden hatte sich in mir ein Druck angestaut, den ich kaum noch ertrug. Wie lange mochten wir zugehört haben? Drei Stunden? Vier? Draußen war es noch hell. Im Nachbarhof gackerten ein paar Hühner, irgendwo bellte ein Hund.
    Es roch nach erloschenem Feuer. Khin Khin schenkte kalten Tee nach, stand auf, holte einen Teller mit gerösteten Melonenkernen, Reiskuchen und eine Packung Kekse. Sie öffnete die Plastikfolie und reichte sie mir. Dabei blickte sie mich aus so verzweifelten Augen an, dass ich nicht einmal ein »Nein, danke« herausbrachte.
    Was war mit Nu Nu geschehen? Hatte sie einen Weg gefunden, beide Söhne zu retten? Sie konnte doch unmöglich …? Wie hatte sie diesen Albtraum überlebt? Obwohl mich nichts mehr interessierte, als Antworten auf diese Fragen zu bekommen, wagte ich nicht, etwas zu fragen. Wir saßen schweigend beieinander. Ich wartete, dass U Ba oder Khin Khin etwas sagten. Minuten verstrichen.
    Ich musste hinaus. Die Enge der Hütte wurde mir unerträglich. Das Leid und die Trauer, die darin wohnten. Die Abgründe, die hier zu Hause

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