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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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bestellte zwei Gläser burmesischen Tee und eine Suppe.
    Ich wartete darauf, dass er mir berichten würde, was Khin Khin ihm noch erzählt hatte, aber mein Bruder sagte nichts, und ich wagte nicht zu fragen.
    Die Kellnerin brachte den Tee und die Suppe, er beugte sich tief über den Teller und begann schweigend zu essen.
    Ich rührte in meinem Tee.
    »U Ba?«
    Er schaute mich an.
    »Was hat Nu Nu gemacht?«
    Er löffelte weiter die Suppe.
    »Nachdem der Leutnant zurück zu seinen Soldaten gegangen ist?«
    Ich nickte.
    »Sie wollte sich umbringen. Aber dann hätte das Militär beide Söhne mitgenommen. Sie hatte die Möglichkeit, einem das Leben zu retten. Durfte sie die ungenutzt lassen, weil ihr die Kraft oder der Mut für eine Entscheidung fehlte?«
    Er schaute mich fragend an, machte eine kurze Pause, ohne eine Antwort zu erwarten, und fuhr fort: »Nein. Sie ist noch in derselben Nacht zum Lager der Gefangenen gegangen und hat einen der beiden herausgeholt.«
    »Wen?«
    »Ko Gyi.«
    Ich schloss die Augen, mir wurde schwindelig. Ich hielt mich mit beiden Händen am Tisch fest.
    »Sie sagte sich, dass er zwar der Ältere, aber der Kleinere und Schwächere war. Er hätte bei den Soldaten keine Chance gehabt. Sie hätten ihn zu kaum etwas gebrauchen können und schnell in den Tod geschickt. Thar Thar war größer und stärker. Wenn einer überleben würde, dann er. Sie hatte keine Wahl. Sie musste Ko Gyi behalten. So hat sie es ihrer Schwester erzählt. Manchmal dreimal am Tag. Bis zum Morgen vor ihrem Tod. ›Ich hatte keine Wahl. Ich musste Ko Gyi behalten.‹«
    »Und Thar Thar?«, fragte ich flüsternd.
    »Ihn haben die Soldaten am nächsten Morgen mitge nommen.«
    Ich suchte nach Worten, aber es gab keine Sätze, die beschrieben hätten, was ich empfand.
    Ich nippte an meinem Teeglas. U Ba leerte seins mit einem kräftigen Zug. Seine Hand zitterte.
    »Das … das überlebt eine Mutter nicht«, sagte ich schließlich.
    »Nein«, wiederholte er leise, »das überlebt eine Mutter nicht.«
    »Warum hat sie …? Ich meine, hätte sie vielleicht …?« Ich beendete die Sätze nicht. Was wusste ich, was sie hätte tun können? Ich versuchte mir vorzustellen, was in dieser Nacht geschehen war. Wie die beiden Brüder sich trennten. Wie Ko Gyi seinen Beutel nahm und Thar Thar zurückließ. Was mochte der gedacht und gefühlt haben? Ein Kind, mit einem Stück Borke um den Hals. Was war aus ihm geworden?
    »Glaubst du, er hat überlebt?«
    »Seine Mutter ist in den Jahren danach zu allen möglichen Astrologen und Wahrsagern gegangen. Einer behauptete, Thar Thar wäre zu den Rebellen übergelaufen. Ein anderer sagte, er habe überlebt und würde nun als Wandermönch durch das Land ziehen. Ein dritter erklärte, die Sterne hätten ihm eindeutig gezeigt, dass er nach Thailand geflohen sei und dort eine reiche Frau geheiratet hätte. Einig waren sich alle, dass er sich bald bei seiner Mutter melden würde. Irgendwann gab Nu Nu die Hoffnung auf.«
    »Vielleicht ist er Soldat geworden und lebt noch?«
    »Dann hätte er sich mit Sicherheit irgendwann bei seiner Mutter und seinem Bruder gemeldet, oder? Seine Verschleppung ist jetzt bald zwanzig Jahre her, und sie hat nie wieder etwas von ihm gehört. Außerdem hat die Armee genug Soldaten. Sie benutzt diese jungen Männer lieber als Minensucher.«
    »Minensucher?« Ich verstand nicht, was er meinte, und schaute meinen Bruder fragend an.
    »Ja. Bei uns herrscht seit Jahrzehnten Bürgerkrieg. Nicht überall, wie du siehst, aber in mehreren Provinzen. Ethnische Minderheiten kämpfen im Dschungel um ihre Unabhängigkeit. In den meisten Gebieten ist es bergig, es gibt keine Straßen, nicht einmal Wege, auf denen die Armee mit ihren Lastwagen und Jeeps fahren könnte. Deshalb brauchen sie Männer, die Proviant, Munition und Waffen schleppen. Khin Khin hat es angedeutet, aber nicht die ganze Wahrheit gesagt. Oft verminen die Rebellen das Gelände. Die Soldaten schicken dann die Träger voran und folgen ihnen mit einigem Abstand.«
    »Warum bedienen sie die Minensuchgeräte nicht selber?«
    U Ba schüttelte den Kopf und sagte so leise, dass ich ihn kaum verstand: »Sie haben keine Minensuchgeräte.«
    »Wie sollen die Träger dann die Minen finden?«
    Er beugte sich weit zu mir über den Tisch: »Indem sie darauf treten.«
    Es dauerte einige Sekunden, bis ich verstand, was er gesagt hatte.
    »Du meinst, die Armee benutzt sie als …« Ich beendete den Satz nicht. »Woher … woher weißt du

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