Herzenstimmen
gestorben ist. Sie will wissen, wo es begraben liegt. Vorher gibt sie keine Ruhe.«
»Wie sollen wir das machen?«
U Ba strich mir die Haare aus dem Gesicht, schaute mich nachdenklich an.
»Gibt es eine Spur, von der du mir noch nichts erzählt hast?«, fragte ich vorsichtig.
»Keine Spur, mehr ein Gerücht. Khin Khin deutete etwas an, doch ich habe dem gestern keine große Beachtung geschenkt.«
»Was denn?«
»Einem der Jungen soll später die Flucht gelungen sein. So etwas glückt äußerst selten. Niemand im Dorf, sagt sie, hat je über Einzelheiten gesprochen, niemand etwas wissen wollen. Allen Deserteuren, ihren Helfern und ihren Familien droht der Tod. Aber das Gerücht wollte nicht verstummen.«
Mein Bruder wurde plötzlich unruhig. Er strich mir noch einige Male über den Kopf, doch mit seinen Gedanken war er woanders. Ich hörte, wie sein Atem schneller ging. Wie es in seinem Magen rumorte. Er stand unvermittelt auf, verschwand wortlos in seinem Schlafzimmer und kehrte kurz darauf umgezogen zurück.
»Die Sonne geht gleich auf. Ich muss noch einmal mit Khin Khin reden. Ich habe gestern nicht nachgefragt, vielleicht weiß sie noch etwas über das Schicksal dieses Jungen.«
Ich wollte nicht allein sein. »Kann ich mitkommen?«
U Ba schüttelte den Kopf. »Ich glaube, in diesem Fall ist es besser, wenn ich alleine gehe. Es wird nicht lange dauern. Warte hier auf mich. Wenn jemand kommt und nach mir fragt, sagst du, egal wer es ist, du weißt nicht, wo ich bin und wann ich wiederkomme.«
Ich nickte verunsichert.
Er eilte die Treppen hinunter und über den Hof.
Durch die offenen Fenster fiel das erste Licht des Tages ins Haus, Hähne krähten, das Schwein unter dem Haus war aufgewacht. Eigentlich wollte ich aufstehen, Feuer machen, Wasser kochen, ein kleines Frühstück vorbereiten, doch ich fühlte mich zu erschöpft. Stattdessen kroch ich tiefer unter die Decken. Mir ging Thar Thar nicht aus dem Kopf. Er musste ein ganz außergewöhnlicher Mensch gewesen sein. Ungefähr in meinem Alter. Ich hätte ihn gern kennengelernt.
Ich dachte plötzlich an meinen Bruder und meine Mutter. Auch wir hatten sehr viel Zeit zu dritt verbracht, weil mein Vater häufig auf Reisen war oder lange im Büro arbeitete. Mir fiel wieder die Geschichte eines Sommertages ein. Meine Mutter, mein Bruder und ich waren auf Long Island am Strand, ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Ich sah sie vor mir, wie sie auf den Badetüchern saßen und sich gegenseitig eincremten. Den Rücken. Die Arme. Die Beine. Ihre Gesichter. Dann standen sie auf und liefen zum Wasser. Mich vergaßen sie. Ich lief ihnen hinterher, planschte in den Wellen, und während sie weiter draußen schwammen, buddelte ich Löcher in den Sand. Am Abend waren meine Schenkel, Arme und Nase so heftig gerötet, dass mein Vater mit mir zum Arzt ging.
Verbrennungen ersten und zweiten Grades.
Nicht nur auf der Haut.
Wir waren uns nicht nah. Waren es nie gewesen. Mein Bruder und ich sowieso nicht. Aber meine Mutter und ich auch nicht. Warum, wusste ich nicht. Vermutlich wusste sie es genauso wenig. Vielleicht hatte auch ich, wie Thar Thar, eine Zweisamkeit gestört? Ich überlegte, ob ich ein Wunschkind war oder ein »Unfall«. Ich wusste es nicht, wir haben in der Familie nie darüber gesprochen.
Eine groß gewachsene New Yorkerin? Ein kleines Herz? In dem nicht viel Platz war? Aber ein anderes hatte sie nicht.
Ich lag noch immer eingehüllt auf dem Sofa, als ich U Ba zurückkommen hörte. Er war außer Atem und so aufgeregt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Ich bemerkte einen Schatten der Enttäuschung in seinen Augen, als er sah, dass ich noch nicht aufgestanden war.
»Sie glaubt, das Gerücht stimmt.« Er holte tief Atem.
»Einem Jungen ist die Flucht geglückt?«
»Ja.«
Sein Blick fiel auf meinen großen Rucksack.
»Kannst du ein paar Sachen, die du für eine kurze Reise brauchst, in deine kleine Tasche packen?«
»Natürlich, warum?«
»Wir müssen verreisen.«
»Verreisen? Wann?«
»Jetzt. Sofort.«
»Für wie lange?«
»Ein paar Tage.«
»Wohin?«
Er überlegte kurz. »Auf die Insel.«
»Welche Insel?«
»Thay hsone thu mya, a hti kyan thu mya a thet shin nay thu mya san sar yar kywn go thwa mai« , sagte er auf Burmesisch.
»Ich verstehe kein Wort.«
21
E s war nicht viel, was wir wussten. Der Mann, den wir suchten, lebte wohl seit vielen Jahren in Thazi, einer Stadt an der Bahnstrecke zwischen Rangun und Mandalay, fünf
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