Herzenstimmen
waren.
Ich sah Nu Nu vor mir. Zum ersten Mal hatte ich ein Bild von ihr vor Augen. Ihr schmächtiger, zitternder Körper unter dem des Leutnants. Der rote Saft der Betelnüsse in ihrem Gesicht. Die Angst um das Leben ihrer Söhne.
Einen kannst du behalten.
Den anderen nehmen wir.
Mir wurde übel. Ich atmete tief ein und aus, um mich nicht zu übergeben. Ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen, und spürte stechende Schmerzen in der Brust.
Langsam versuchte ich mich zu erheben und wäre fast auf meinen Bruder gefallen. Meine Beine waren eingeschlafen und trugen mich nicht.
»Ich muss raus auf den Hof«, flüsterte ich.
Er hustete und nickte nur kurz. »Warte dort auf mich.«
Ich kroch auf allen vieren auf die Veranda, streckte mich, blieb einige Minuten sitzen, bis das Kribbeln in meinen Beinen verschwand, stieg die Treppen hinab und hockte mich im Schatten der Hütte auf die Erde. Was hatten sie Nu Nu angetan? Wie hatte sie sich entschieden? Ich spürte Tränen meine Wangen hinunterrinnen.
Über mir hörte ich U Ba und Khin Khin flüstern. Hin und wieder unterbrach sein beißender Husten ihre Erzählung. Am Ton ihrer Stimmen erkannte ich, dass das Leid noch lange kein Ende gefunden hatte.
Irgendwann kam auch mein Bruder die Treppe herunter. Er hielt sich am Geländer fest, ich hatte den Eindruck, dass er am ganzen Körper zitterte. Mit einem Nicken gab er mir zu verstehen, ihm zu folgen.
Wir liefen schweigend den Pfad hinunter, der so schmal war, dass wir hintereinander gehen mussten. In der Ferne sah ich Rauchsäulen in den Himmel steigen. Es war später Nachmittag, auf dem Weg von ihren Feldern kamen uns mehrere Bauern entgegen und grüßten freundlich.
Hinter ihnen ritt ein Junge auf einem Wasserbüffel und lachte mich an, mit weißen Zähnen. Ich nickte ihm zu.
Auf der Straße bogen wir am Banyanbaum rechts ab, kurz darauf überholte uns ein Militärjeep, hielt mit quietschenden Bremsen, setzte zurück und kam neben uns zum Stehen.
Meine Knie wurden weich. Was wollten sie von meinem Bruder und mir? Waren sie uns gefolgt, ohne dass wir es bemerkt hatten? Hatten wir uns in Gefahr begeben? Sollte die Stimme am Ende recht behalten?
Sie werden dich holen kommen. Vor ihnen kann dich niemand schützen.
Im Jeep saßen vier Soldaten. Neugierige Blicke. Rote Zähne. Grüne Uniformen, schwarze, blank polierte Stiefel.
Sie hatte mich gewarnt. Wenn sie kommen, schau ihnen nicht ins Gesicht. Schau ihnen nicht auf die Stiefel. Sie besitzen magische Kräfte. In ihnen spiegelt sich alles Grauen, alles Böse, zu dem wir fähig sind.
Blutroter Speichel, der auf ein Gesicht tropft.
Die Soldaten fragten meinen Bruder etwas und deuteten auf mich. Er lachte gezwungen. Sie lachten zurück. Ich ertrug ihren Anblick nicht und wandte mich ab.
Das Gespräch war kurz, unterbrochen von Gelächter und erstaunten Blicken, dann fuhren sie weiter.
»Was wollten sie?«, fragte ich atemlos, als der Jeep außer Sichtweite war.
»Wissen, wer du bist und wohin wir gehen«, antwortete er mit angestrengter Stimme.
»Warum?«
»Nur so.« U Ba zögerte kurz. »Viele westliche Besucher, die mit einem Einheimischen spazieren gehen, gibt es bei uns nicht. Sie waren neugierig.«
»Was hast du ihnen gesagt?«
»Die Wahrheit. Dass du meine Schwester bist und wir auf dem Weg nach Hause sind. Sie boten an, uns mitzunehmen. Sie meinten, du wärest das Wandern in einer hügeligen Landschaft bestimmt nicht gewöhnt. Ich habe dankend abgelehnt.«
»Das war alles?«, wunderte ich mich.
»Ja«, erklärte er eine Spur zu schnell. Zu laut. Das war nicht seine Art.
Wieder war ich mir nicht sicher, ob er mir die Wahrheit sagte.
Als wir zum Teehaus kamen, blieb mein Bruder abrupt stehen und hustete so heftig, dass er kaum Luft bekam.
»Wir müssen zum Arzt«, sagte ich erschrocken.
Er hob beide Hände und winkte ab, ohne einen Ton herauszubekommen.
»U Ba! Es wird hier doch einen Arzt geben, der dich untersuchen kann. Deine Lunge muss geröntgt werden.«
»Den gibt es nicht. Außerdem ist es nicht so schlimm und geht bald wieder vorbei, glaub mir. Oder willst du mit mir ins Militärkrankenhaus?«
Ich schwieg.
»Hast du Hunger?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.«
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich hier schnell eine Nudelsuppe esse?«
»Natürlich nicht.«
Im Teehaus saßen nur noch wenige Gäste, wir hockten uns an einen Tisch, der etwas abseits stand.
Die Kellnerin schlurfte auf uns zu, U Ba
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