Herzenstimmen
von ihrer Schwester kaum beruhigen. Ihr Körper war über und über mit roten Pusteln bedeckt. Sie aß so wenig, als wollte sie sich zu Tode hungern. Ihr Herz war schwach. Ein gequälter Geist. Ihr Tod kam nicht überraschend. Nur die Umstände waren ungewöhnlich.«
»Und Ko Gyi? Warum ist er nicht zurückgekommen und hat sich gekümmert?«
»Das letzte Mal hat er sich aus Australien gemeldet und Geld geschickt. Angeblich hat er sich dort niedergelassen. Das war vor fünf Jahren. Seitdem schweigt er. Aber vielleicht sind seine Briefe auch einfach verloren gegangen oder geöffnet worden.«
Meinem Bruder fielen die Augen zu, und auch ich spürte eine schwere Müdigkeit in mir.
»Möchtest du noch etwas Musik hören vor dem Einschlafen?«
»Nein, lieber nicht.«
Wir schwiegen eine Weile. Zum ersten Mal fand ich die Stille zwischen uns wohltuend.
»Glaubst du, dass die Stimme in mir verstummt ist?«
»Das weiß ich nicht.«
»Natürlich nicht. Aber was meinst du?«
»Wir werden sehen«, antwortete er ausweichend. »Hat sie während Khin Khins Erzählungen etwas gesagt?«
»Nein.«
»Das ist ein gutes Zeichen, oder nicht?«
Ich zuckte ratlos mit den Schultern. »Wahrscheinlich.«
Er unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. »Ich bin furchtbar müde, verzeih mir. Aber der Tag hat mich sehr angestrengt.«
»Mich auch.«
»Brauchst du noch etwas für die Nacht?«
»Nein.«
Er stand auf, kam zu mir, nahm zärtlich meinen Kopf in seine Hände und küsste mich auf die Stirn. »Schlaf gut.«
»Du auch.«
»Weck mich, wenn du etwas Schlechtes träumst.«
20
I ch erwachte in der Nacht von einem lauten Wimmern. Wein te mein Bruder? Ich stand auf, ertastete die Taschenlampe neben dem Sofa, schlich in ihrem matten Licht zu seinem Zimmer und hörte hinter dem Vorhang den ruhigen, gleichmäßigen Atem seines Schlafs. Hatte ich mich getäuscht? Oder war die Stimme zurückgekehrt? Hatte sie mich geweckt? Ich lausch te. Ein paar Insekten. In der Ferne bellte ein Hund. Ein anderer antwortete ihm. Stille.
Ich legte mich zurück aufs Sofa, horchte noch einen Moment und schlief wieder ein.
Als ich zum zweiten Mal in dieser Nacht erwachte, hatte mich die Stimme geweckt.
Wo ist Thar Thar?
Ich richtete mich auf und starrte in die Finsternis. Es klang, als spräche jemand aus der Dunkelheit zu mir.
Was ist mit meinem Sohn geschehen? Was haben sie mit ihm gemacht?
Mir wurde unheimlich, ich tastete nach der Taschenlampe, konnte sie aber nicht finden.
Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum bist du nicht nach New York zurückgekehrt? Es wird kein gutes Ende nehmen.
Plötzlich ging das Licht an, und U Ba stand vor mir.
»Was ist passiert?«, fragte er besorgt.
Ich war zu überrascht, um zu antworten.
»Du hast laut im Schlaf geschrien.«
»Die Stimme.« Ich schaute mich suchend im Zimmer um. »Ich habe die Stimme wieder gehört.«
Er setzte sich zu mir. »Bist du sicher?«
»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Es klang nach ihr.«
»Was hat sie gesagt?«
Ich war zu aufgeregt, um mich zu konzentrieren.
»Wollte sie wissen, wo Thar Thar ist?«, fragte mein Bruder.
»Ja.«
»Was noch?«
»Sie hat mich gewarnt. Ich soll nach New York zurück. Unsere Suche wird kein gutes Ende nehmen.«
U Ba nickte. »Wie hat sie geklungen?«
Ich versuchte, mich an ihren Ton zu erinnern, und wurde unsicher.
»Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht«, ich zögerte einen Moment, »vielleicht habe ich es auch nur geträumt.«
»Das glaube ich nicht.«
Es war kalt, ich zog die Decken bis ans Kinn, rutschte tiefer und tiefer in die Kissen, ließ mich langsam zur Seite gleiten, bis ich mit meinem Kopf auf seinen Knien lag. Ich war hellwach und furchtbar erschöpft zur selben Zeit. War alles umsonst gewesen? Hatte sich der Mönch geirrt, oder hatte ich seinen Worten zu viel Glauben geschenkt (»Zwei Seelen in einer Brust«) und war einem albernen Aberglauben gefolgt?
»Der Mönch hat gesagt, dass sie verstummen wird, wenn ich herausfinde, zu wem die Stimme gehörte und warum die Frau gestorben ist«, sagte ich. »Das haben wir. Meinst du, er hat sich getäuscht, oder es war die falsche?«
»Weder noch.« Mein Bruder schwieg lange, bis er fortfuhr: »Aber ich glaube, sie wird erst verschwinden, wenn wir die ganze Wahrheit wissen. Wie soll diese rastlose Seele sonst zur Ruhe kommen?«
»Die ganze Wahrheit? Hat Khin Khin gelogen?«
»Nein. Aber wir müssen herausfinden, was mit Thar Thar passiert ist. Eine Mutter will wissen, wie ihr Kind
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