Herzgefaengnis
Ein Dutzend Nachbarn wurden befragt, keiner hatte etwas bemerkt. Es fehlen noch … drei. Die werden meines Wissens gerade heute oder am Montag befragt. Einer ist wohl verreist und kommt erst am Mittwoch zurück.“
Alle Blicke ruhten nun auf meinem Verteidiger, der sich mit einer bedachtsamen Geste an die Nase fasste. „Einen Moment bitte.“ Er wandte sich zu mir um und sagte leise:
„Wir nehmen zurück. Mittwoch können wir einen neuen Antrag stellen, dann sollten alle fehlenden Ergebnisse da sein.“
Ich nickte. Wenn ich heute auf einem Gerichtsbeschluss beharrte, konnte ich erst in frühestens drei Monaten einen neuen Antrag stellen.
„Ich nehme den Antrag für heute zurück.“ Der Richter und die Staatsanwältin nickten, die Protokollführerin druckte das Protokoll aus und ließ es durch den Richter unterschreiben.
„Einen Moment noch, Herr Vorsitzender“, ließ sich die Staatsanwältin plötzlich hören. „Hier ist noch ein Antrag auf Beschlagnahme eines Briefes der Beschuldigten.“ Sie reichte dem Richter einen Antrag – und ich konnte meinen Brief an Leo darunter erkennen. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Die Vorstellung, wie sie meinen Brief las, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen.
Der Richter las sich den Antrag in aller Ruhe durch und sah dann mich an. „Der Brief soll in Kopie zu den Akten genommen werden, da er Angaben zur Tat enthält“, sagte er knapp. „Sie können sich dazu äußern.“
„Meine Mandantin verzichtet auf eine Äußerung“, sagte mein Anwalt und warf mir einen warnenden Blick zu.
„Gut, dann nach Antrag.“ Nach Antrag? Die Protokollführerin druckte einen Beschluss aus, den der Richter unterschrieb. Dr. Krawczyk erhielt eine Durchschrift.
„Bitte lassen Sie mich noch kurz mit meiner Mandantin allein reden.“
Wir wurden hinab in den Vorführtrakt gebracht.
„Machen Sie sich bitte keine Gedanken. Ihr Brief wird weiter geschickt. Es kommt nur eine Kopie in die Akten.“ Na toll. Jeder Depp, der schlau genug war, eine Ermittlungsakte zu lesen, würde diesen Brief finden.
„Aber ich habe gar nichts geschrieben, außer dass ich unschuldig bin. Was ist das für eine Sch…“
„Psst“, machte mein Anwalt. „Das ist alles vertraulich. Niemand Unbefugtes wird das lesen. Beruhigen Sie sich.“
Einfacher gesagt als getan.
„Mir ist noch etwas eingefallen.“ Ich erzählte ihm von der Person im Gebüsch.
„Gut, dass Sie sich daran erinnern. Können Sie die genau beschreiben?“
Ich holte tief Luft, kramte nach meinen Aufzeichnungen und hielt sie Dr. Krawczyk hin.
„Das hier habe ich auf Anregung von Dana Kanther geschrieben. Sie war gestern bei mir. Da steht alles drin. Auch wie diese Person aussah. Vielleicht ergeben sich ja daraus neue Ansätze.“ Ich blickte zu Boden. Die Fliesen unter meinen Füßen waren von schmutzigem Grau. Einige hatten tiefe Risse.
„Ich hoffe, Sie … Sie sind nicht schockiert, wenn Sie das lesen“, brachte ich mühsam heraus.
Dr. Krawczyk berührte sanft meine Hand, als er die eng beschriebenen Blätter an sich nahm. Ein elektrisches Kribbeln durchfuhr mich.
„Ganz sicher nicht. Sie wissen doch: Ich verstehe fast alles. Das ist Teil meines Jobs. Und …“ er zögerte. „Bis jetzt wurde ich von Ihnen nur angenehm überrascht.“
Ich sah zu ihm auf und entdeckte die Andeutung eines schelmischen Lächelns.
„Ich versuche gerade mir vorzustellen, womit Sie mich schockieren könnten.“
Bei diesen Worten stieg Hitze in meine Wangen, und sein Lächeln wurde breiter. Es machte aus diesem eher durchschnittlich aussehenden Mann einen richtigen Charmeur. Ich musste mich in acht nehmen.
„Lesen Sie es doch, dann wissen Sie es vielleicht“, versuchte ich zu kontern.
Er hob amüsiert die Augenbrauen. „Das werde ich tun, Frau Jung. Noch heute. Denn nachher werde ich Sie besuchen. Dann kann ich Ihnen verraten, ob es Ihnen gelungen ist.“ Er blickte auf die Blätter.
„Ich hoffe nicht, dass es Ihre Handschrift ist, die mir einen Schock versetzt“, murmelte er.
„Oh je – habe ich so geschmiert?“
„Nein, nein“, versetzte er ein wenig hastig. „Es geht schon.“
„Ansonsten könnte ich es Ihnen auch vorlesen.“
Seine Augen begannen zu funkeln, als er erwiderte: „Frau Jung, für nichts würde ich mir im Augenblick lieber Zeit nehmen, als Ihrer angenehmen Stimme zu lauschen. Wirklich. Doch leider … ich habe in einer Stunde meinen nächsten Termin.“ Echtes Bedauern spiegelte sich in
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