Herzgespinst - Thriller
kennenlernen. Erinnerst du dich nicht? Du hast mir von ihm erzählt, als wir uns zufällig in der Siedlung getroffen haben.«
Julia schüttelte ungläubig den Kopf. »Und das hast du dir gemerkt?«
Luis schmunzelte. »Ich bin ein Kiffer, schon wieder vergessen? Die können wahrsagen und haben ein Gedächtnis wie die Elefanten. Besonders, wenn ihnen schöne Frauen wichtige Dinge erzählen.«
Julia sah sich suchend um.
Seit sie Fredo aus dem Fenster geworfen hatte, war er nicht mehr aufgetaucht. »Ich habe ihn aus der Küche verbannt, weil er den Käse angefressen hat«, gestand sie. »Und jetzt ist er wahrscheinlich sauer auf mich. Aber wenn er Hunger hat, wird er schon wiederauftauchen.«
Insgeheim hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn so grob angefasst hatte. Aber die Kratzer auf ihrem Unterarm waren auch nicht ohne.
Sie waren geschwollen und feuerrot und brannten bei jeder Bewegung.
»Ach, da ist er ja!«, rief Luis ganz plötzlich.
Er zeigte in die Lindenkrone. »Der sieht ja aus wie ich.« Er lachte belustigt.
Julia musste Luis recht geben. Fredos langes Fell bestand überwiegend aus einem struppigen Rotbraun. Nur seine Ohren waren weiß. Er kauerte in gebückter Lauerhaltung zwischen den dichten Blättern und war auf den ersten Blick kaum zu sehen.
Julia lockte ihn mit einer schnalzenden Zungenbewegung, aber Fredo hatte nur ein böses Fauchen für sie übrig.
»Dicke Luft zwischen Katz und Kater«, grinste Luis. »Kommt in den besten Familien vor.«
Er streckte die Hand nach oben. »Hallo, Fredo!«, sagte er. »Wir lieben dieselbe Frau.«
»Spinner«, empörte sich Julia und boxte Luis in die Seite.
Fredo tatzte mit eingezogenen Krallen nach Luis.
»Er mag dich«, sagte Julia überrascht.
»Wer mag mich nicht?«, konterte Luis grinsend.
Julia ersparte sich eine Antwort. Aber zum ersten Mal seit Tagen war sie wieder zuversichtlich, dass sich alles doch noch einrenken würde.
19
D er Spaziergang mit Luis am Flussufer entlang machte Julia überraschend viel Spaß. Nach einer Weile fühlte sie sich allerdings schlapp und ihr Kopf schmerzte von der Hitze. Deshalb setzten sie sich in die Nähe der Schausteller auf eine Bank und guckten ihnen beim Training zu.
Die bunt bemalten Wohnwagen erinnerten Julia an ihren ersten Zirkusbesuch zusammen mit ihrem Vater. Damals hatte sie sich so sehr vor dem weißen Clown gefürchtet, dass sie früher nach Hause gehen mussten.
Am nächsten Tag waren sie dann ein zweites Mal hingegangen und der Clown hatte ihr ein Kaninchenbaby geschenkt und ihr erlaubt, in den Hut vom Zauberer zu gucken.
Trotzdem hatte sie seitdem immer ein wenig Respekt vor Zirkusleuten gehabt.
»Diese Familie Morgenroth gibt es schon ewig«, sagte Luis. »Mein ältester Bruder hat bei denen mal ein Praktikum gemacht. Muss cool gewesen sein. Morgenroths Flying Fairytales .«
Julia sah Luis erstaunt an. »Du hast einen Bruder?«
Luis lachte. »Na klar, warum nicht. Jetzt ist er aber verheiratet und arbeitet in einer Bank und ich werde demnächst Onkel«, erzählte er.
»Und was war das für ein Praktikum?«, fragte Julia. »Hat er mit den Marionetten gespielt?«
Luis schüttelte den Kopf. »Das sind Stabpuppen. Nein, er hat da als Beleuchter gejobbt.« Er legte wie zufällig den Arm um Julias Schulter und rückte näher an sie heran. »Wenn du was trinken musst, sag bloß Bescheid, bevor du umkippst. Wir hätten eine Wasserflasche einpacken sollen.«
Julia wunderte sich über seine Fürsorglichkeit. Luis hatte wirklich sehr viele verschiedene Seiten. Sie hatte zwar keinen Durst, aber seine Nähe war ihr plötzlich unheimlich.
»Das wäre echt cool«, sagte sie also. »Mein Hals ist ganz trocken.«
Luis stand sofort auf. »Okay, bin gleich wieder da. Bei den Puppenspielern kriege ich bestimmt was. Dann kann ich gleich mal fragen, ob sie sich noch an meine Bruderpfeife erinnern«, sagte er und rannte los.
Julia beobachtete, wie Luis ein Mädchen mit hüftlangen schwarzen Haaren ansprach, das mit ein paar riesigen Puppen hantierte. Anscheinend war sie gerade damit beschäftigt, ihnen ihre Kostüme anzuprobieren.
Julia fand es seltsam, dass ein Mädchen, das etwa so alt wie sie sein musste, noch mit Puppen spielte. Ihr wäre das furchtbar albern vorgekommen, obwohl sie natürlich wusste, dass es sich nicht um Spielzeug handelte und ganz besondere Fingerfertigkeit erforderte. Die meisten Puppenspieler schrieben ihre Stücke sogar selber, hatte sie irgendwo gelesen. Das konnte
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