Herzgesteuert: Roman (German Edition)
Panikwelle durchflutet mich.
Ist Fanny … gar nicht in ihre Klasse gegangen? Sitzt sie allein in der Halle und heult? Habe ich ihr so sehr geschadet, dass sie sich nicht in den Unterricht traut? Wird sie die Schule schmei ßen und womöglich in der Gosse landen?
Ach, meine Fantasie geht schon wieder mit mir durch. Es ist gar nicht Fanny, sondern irgendein fremdes blondes Mädchen mit Pferdeschwanz und Jeans, das dort draußen seine Aufgaben macht. Genau wie wir damals, denke ich.
Mit roten Wangen und ganz außer Atem nehme ich immer zwei Treppenstufen auf einmal. Als ich den langen Gang entlanglaufe, dreht sich mir der Magen um, ich fühle mich unsicher und angespannt. Mein eigenes Keuchen macht mich ganz verrückt: Was, wenn plötzlich ein strenger Lehrer vor mir steht und fragt, warum ich hier herumschleiche?
Dann stehe ich vor ihrer Klasse. Plötzlich komme ich mir vor wie ein Vollidiot.
So wie früher, als ich noch selbst Schülerin war. Wenn ich da jetzt reingehe und Fanny ihr Schulbrot bringe, mache ich dann nicht alles noch schlimmer? Mein Magen krampft sich zusammen. Was, wenn es so richtig peinlich wird? Was, wenn die ganze Klasse in johlendes Gelächter ausbricht und mit gehässigem Grinsen auf meine Fanny zeigt? Was, wenn der Rottweiler mit Kreide nach mir wirft?
Werde ich sie total blamieren und endgültig zum Gespött ihrer Klasse machen?
Wird der Lehrer mich des Raumes verweisen und sich die Störung verbitten?
Mit hämmerndem Herzen starre ich auf die Tür.
Drinnen doziert eine Männerstimme. Ich drücke mein verschwitztes Gesicht an die Tür und lausche. Ist das Rottweiler? Ich bin völlig durch den Wind.
Habe ich etwa Angst vor einem kleinen Studienrat? Vor dem Lehrer meiner Tochter? Hat sie mich schon angesteckt mit ihrer Hysterie?
Ich muss ja nicht hineingehen. Was, wenn Fanny so sauer auf mich ist, dass sie mich anschreit? Einen Moment lang zögere ich, und meine Finger krallen sich um dieses gesunde Vollwertaufstrich-Vollkornbrot.
Drinnen bellt eine Männerstimme Befehle.
»Schreibt zuerst die Formel auf und setzt dann die Zahlenwerte ein«, höre ich eine kräftige dunkle Stimme. »Wie ändert sich der Flächeninhalt, wenn die Diagonale verdoppelt wird, nachdem das Deltoid bekannt ist?«
Ich weiß es, ich weiß es! Das habe ich heute Nacht alles gelernt!
Schon habe ich die Klinke in der Hand. Juchuu! Ich gehe da jetzt rein und zeichne ganz locker die Lösung an die Tafel …
Ich fasse mir an den Hals. Ich kann da jetzt nicht reingehen, ich kann einfach nicht.
Meine Tochter würde mir das nie verzeihen.
Plötzlich komme ich mir nur noch blöd vor.
Unverrichteter Dinge trotte ich mit meinem blöden Gurkenbrot aus dem Gebäude und wieder am Fluss entlang. Die Morgensonne blendet mich, und ich muss ständig daran denken, wie saublöd ich mich verhalten habe. Statt Fanny zu helfen, habe ich ihr immens geschadet. Sie wird sich bei Christiane ausheulen.
Und Christiane wird wieder mal recht behalten. Ich bin eine Rabenmutter. Entweder ich habe keine Zeit für mein Kind oder ich mache alles falsch.
Mir geht es schlecht. Erschöpfung und Schwindel melden sich nach der durchwachten Nacht.
Völlig geknickt biege ich in den Park ein und steuere auf meine Lieblingsbank zu. Die Sonne schickt inzwischen wärmende Strahlen und taucht meinen Zufluchtsort in tröstliches Licht. Hier bin ich Fanny nahe, und hier werde ich sie innerlich um Verzeihung bitten. Ich muss nachdenken, wie ich das Ganze wiedergutmachen kann. Ich werde mich jetzt dort hinsetzen und das Gurkenbrot selber essen. Jetzt ist Krisenmanagement angesagt. Fanny ist das Wichtigste in meinem Leben. Ich darf unser Verhältnis aus lauter Stress nicht kaputt machen.
Heute Mittag werde ich sie vor der Schule abholen. Da muss ich halt schon wieder einen Termin sausen lassen, aber das ist jetzt egal. Ich werde vor der Schule stehen, mit einem … Lebkuchenherz, auf dem »Bitte verzeih mir« steht. Das werde ich ihr um den Hals hängen. Und dann sage ich: »Mein liebstes Mädchen, ohne dich ist alles doof! Immobilien: doof. Besichtigungstermin: doof. Millionäre: doof. Provision: doof. Liegenschaft in Kitzbühel: doof. Notartermin: doof. Kaufvertrag: doof.«
Mit einem verklärten Lächeln auf dem Gesicht trabe ich meinem Lieblingsplätzchen entgegen. Ja, so mache ich es. Sie wird mir um den Hals fallen und »Mama, passt schon« sagen, und dann lade ich sie ganz schick auf der Steinterrasse zum Mittagessen ein. Wir werden mal wieder
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