Herzgesteuert: Roman (German Edition)
bin ich für ihn überhaupt noch anwesend? Wahrscheinlich ist er es gewöhnt, dass man ihm irgendwas zusteckt, ohne weiter mit ihm zu reden. Für ihn scheint unser Dialog beendet zu sein.
Warum ich trotzdem stehen bleibe, weiß ich nicht. Ganz kindliche Fragen beschäftigen mich, und ich muss an Fanny denken.
Ob er wohl schon Zähne geputzt hat heute Morgen?
Und seine … sonstigen Verrichtungen erledigt?
Wo hat er übernachtet? Hatte er schon eine warme Dusche?
Auf den zweiten Blick wirkt er gar nicht so ungepflegt.
Na gut, sein Hemdkragen, der aus mehreren Pulloverschichten hervorschaut, ist nicht aprilfrisch, aber dieser Mann starrt nicht wirklich vor Dreck.
Er macht einen zutiefst zufriedenen Eindruck, wie er da so auf meiner Bank sitzt und mein Gurkenbrot verdrückt. Er erinnert mich irgendwie an Franz von Assisi. Siehst du die Vögel und die Hasen und die Rehe dort im Walde? Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der Herrgott ernährt sie doch.
Juliane, warum läufst du jetzt nicht einfach weiter? Lass doch diesen Mann in Ruhe und geh deiner Wege! Du hast so viel Arbeit und eigentlich gar keine Zeit!
Ich weiß selbst nicht, warum ich hier an diesem schönen Fleckchen stehen bleibe, die wärmende Morgensonne im Rücken. Von diesem Menschen geht so etwas Friedliches aus. Er wirkt so entspannt.
So, als hätte er mit allen irdischen Dingen wie Stress, Streit, Hetze und Hast, Geldgier und Geltungsdrang einfach abgeschlossen.
Nachdem er das Butterbrotpapier sorgfältig zusammengefaltet hat, fragt der Landstreicher: »Kann ich das behalten?«
Nein, das will ich natürlich noch mal benutzen, Sie Schelm.
»Ja klar«, sage ich, etwas erstaunt.
»Warum ist Ihre Tochter Ihnen denn böse?«, fragt er plötzlich übergangslos.
Er hebt den Kopf und sieht mich mit undurchdringlichem Blick an.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Das geht Sie doch gar nichts an, Mann. Halten Sie sich gefälligst aus meinen Familienangelegenheiten raus. Sie wissen doch gar nicht, wer meine Tochter ist!
Doch ich öffne den Mund, und die Worte purzeln mir irgendwie heraus: »Na ja, also, ich habe ihr eigentlich nur helfen wollen, indem ich mich die ganze Nacht mit ihren Geometrieaufgaben beschäftigt habe …« Ich breche ab. Was weiß dieser Kerl von Geometrieaufgaben? Der kann wahrscheinlich nicht bis drei zählen. »Geometrie ist … also das hat was mit Rechnen zu tun«, erkläre ich schnell. »Und mit Zeichnen. Dreiecke und Kreise und Quadrate und so«, höre ich mich faseln. Ich gestikuliere raumgreifend und zeichne ein ziemlich krummes Viereck in die Luft. Warum erzähle ich ihm das bloß?
Warum lasse ich diesen Sonderling nicht einfach in Ruhe und hopple heim?
Er scheint Gedanken lesen zu können und lächelt.
»Aber das ist doch sehr nett von Ihnen«, sagt der Mann. »Dass Sie Ihrer Tochter helfen wollten.«
»Na ja, aber in meinem Übereifer habe ich ihrem Mathelehrer heute Morgen eine Mail geschrieben.« Plötzlich sprudelt es nur so aus mir heraus: »Weil ich im Grunde stolz auf mich war. Darauf, dass ich die Aufgaben geknackt habe. Weil ich dumme Gans wohl selbst ein bisschen Anerkennung wollte.«
Er zieht eine Augenbraue hoch, sagt aber nichts.
»Die ganze Nacht habe ich gerechnet, mit dem Zirkel gefuhrwerkt und mit dem Geodreieck Trapeze gemalt, Diagonalen eingezeichnet und Koordinatensysteme gebastelt und dabei drei Kilo Radiergummi verbraucht, weil das Ganze erst mal immer seitenverkehrt geraten ist oder zu klein oder zu krumm … Sie wissen wahrscheinlich nicht, wovon ich spreche …?«
Ich kratze mich ratlos am Kopf und drehe mich in Richtung Sonne, als könne die mir raten, wie ich aus dieser bescheuerten Nummer wieder rauskomme.
Warum in aller Welt stehe ich morgens um halb neun im Park und erkläre einem Penner Mathematik? Bin ich eigentlich noch ganz dicht?
»Ich war früher furchtbar schlecht in Mathe, ich habe dieses ganze Zeug gehasst, aber niemand hat mir geholfen. Jetzt wollte ich es meiner Tochter erklären, aber dazu brauchte ich die Lösungen, und deshalb habe ich diesem Lehrer geschrieben …«
Er breitet die Hände aus und zieht die Schultern hoch, so als wolle er fragen: »Hast du sonst keine Probleme?«
Ich verschränke die Arme, weil mir allmählich kalt wird. Meine Stimme wird immer schriller: »Dabei habe ich den Lehrer aus Versehen mit seinem Spitznamen angeredet, mit Rottweiler! Meine Tochter nennt ihn immer nur Rottweiler!« Verstört ringe ich die Hände. »Ich dachte, der
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