Herzgesteuert: Roman (German Edition)
schon entsorgen sollen. Im Laufschritt knöpfe ich mir die Bluse auf und drücke noch auf den Anrufbeantworter, der fordernd blinkt: »Sieha-ben-sie-ben-neu-e-An-ru-fe!«, spricht der Roboter und beginnt dann die erste Nummer aufzusagen.
»Juliane, hier ist Heidi. Du hast heute Abend Chorprobe, und wenn du wieder nicht kommst, kannst du nicht mitsingen! Denk an Simon Rattle …«
»Ich weiß!«, schreie ich, während ich die Bluse von mir reiße und entsetzt an den Schwitzflecken schnuppere. »Die c-Moll-Messe im Haus für Mozart, und um halb acht ist Einsingen! Ja, ja!«, rufe ich gehetzt. »Ich komm vielleicht etwas später, aber ich komme!«
Mit Schwung werfe ich die Handtasche im Schlafzimmer aufs Bett. Hier müsste auch mal wieder aufgeräumt werden, denke ich. Aber heute Morgen hatte ich keine Zeit! Die Wäscheschubladen stehen offen, seidene Höschen und BHs quillen überall heraus, und mein Schuhregal sieht aus wie nach einer Schlacht.
Fanny wollte unbedingt noch ein Referat ausdrucken, aber der Drucker funktionierte nicht, und wir hatten schon wieder den puren Stress. Für das Kind muss ich mir wirklich viel mehr Zeit nehmen, denke ich schuldbewusst. Im nächsten Schuljahr wird alles anders.
Auf einem Fuß balancierend, halte ich mich an der Schranktür meiner begehbaren Garderobe fest, um mir die Seidenstrümpfe ausziehen zu können. In meiner Hektik bleibt meine goldene Armbanduhr an der Kniekehle hängen, und ich sehe gerade noch, wie eine gigantische Laufmasche sich den Weg zu den Fersen sucht. »Mist«, murmele ich. »Die waren teuer.«
Entschlossen werfe ich die blöden Strümpfe in den Abfall und reiße die Badezimmertür auf. »Jetzt geht das Chanel-Kostüm nicht mehr«, führe ich meine Selbstgespräche fort, während ich mit einer Hand die Dusche andrehe. »Dann eben doch der Hosenanzug. Oder doch das Strenesse-Kleid. Da zieh ich eben die Neuen von La Perla an. Wenn ich nur wüsste, wo ich die hingelegt habe … Wäre ja Pech für den Brezelkönig aus Stuttgart, wenn er meine Beine nicht sieht.«
Mit der anderen Hand öffne ich gerade die Schließe an meinem BH und reiße ihn mir eilig vom Busen, als mir auffällt, dass das Wasser bereits heiß aus dem Duschkopf schießt.
Normalerweise braucht das Wasser ein paar Sekunden, bis es warm wird.
Ist Fanny doch da? Aber wieso sollte sie um diese Tageszeit duschen? Sie ist doch in der Schuuuu…
In diesem Moment geht auf der anderen Seite des Bades Fannys Zimmertür auf, und ich sehe einen Fuß.
Einen Männerfuß.
Einen mir völlig unbekannten, nackten Männerfuß samt behaartem Männerbein …
Ich reiße den Mund auf und halte die Luft an … Da kommt noch ein zweites, genauso behaartes Bein, und dann sehe ich das behaarte Ding, das dazwischen ist …
»Aaaahhh!«, schreie ich entsetzt und halte mir meinen BH vor den Busen.
Ein Einbrecher! Ein Mann! Ein völlig fremder, nackter … Ein nackter Mann! Mit allem Drum und Dran!!
Ein Triebtäter!
Der Schock schnürt mir die Luft zum Atmen ab.
Doch mein Überlebenswille legt ungekannte Mutreserven frei.
»Sie! Ich SCHREIE!«, kreische ich in blinder Panik, als der Schatten, der an der Türe aufgetaucht war, mindestens genauso erschrocken wie ich, wieder verschwindet. Die Kinderzimmertür schließt sich in Sekundenbruchteilen, die Klinke schnellt nach oben.
Es ist, als hätte ich mir alles nur eingebildet.
Aber da ist doch jemand! Da war … ist ein Mann in Fannys Zimmer!
Mein Herz rast, meine Beine sind puddingweich.
Reflexartig taste ich auf der Schminkkonsole nach meiner Nagelschere.
»Kommen Sie sofort da raus«, quietsche ich, wobei mir das klopfende Herz schier aus dem Mund fallen will. »Ich kann Karate!«
Was natürlich voll gelogen ist. Ich kann noch nicht mal ein Hühnchen tranchieren. Geschweige denn ein männliches Geschlechtsteil.
»Nein, bleiben Sie da drin!«, brülle ich, während ich überlege, was ich zuerst tun soll: nach einem Handtuch greifen, um es mir um den Körper zu wickeln, die Badezimmertür von innen abschließen, um den Einbrecher auszusperren, oder das Badezimmerfenster aufreißen und um Hilfe schreien? Aber das geht unmöglich gleichzeitig, während man mit BH in der einen und Nagelschere in der anderen Hand barfuß auf den Badezimmerfliesen steht!
Das Wasser rauscht indessen unablässig in der Dusche.
Wollte dieser Kerl … dieser Einbrecher … etwa noch duschen, bevor er mir das Haus ausräumt?
Polizei! Notruf! Feuerwehr!
Oh, wie ich zittere! Mein
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