Herzgesteuert: Roman (German Edition)
es ist kein Blut zu sehen, da muss ich realistisch bleiben.
Während ich noch mit zusammengekniffenen Augen auf das leblose Menschenbündel starre, nehme ich mit Grauen wahr, dass es erneut leise klopft.
Soll ich »Herein« rufen, oder wie denkt der sich das?
»NEEEEEIIIINN!«, schreie ich mit der Kraft einer Löwin. »Bleiben Sie, wo Sie sind! Ich rufe die Polizei!«
Mit schlotternden Knien versuche ich aufzustehen, aber ich traue mich nicht an dem Toten vorbei.
»Das wollte ich eigentlich verhindern«, antwortet eine Männerstimme, die mir irgendwie bekannt vorkommt. »Bitte rufen Sie nicht die Polizei!«
Ja, der hat Nerven.
Erst einbrechen, rauben, morden und vergewaltigen, ach so, duschen hab ich noch vergessen – und dann das Ganze gütlich regeln wollen?!
»Ich kann Ihnen alles erklären!«
Mein Herz hämmert. Jetzt will er auch noch mit mir diskutieren. Aber das sagen alle. Dass sie alles erklären können.
Ich bekomme eine neue Panikattacke und ringe nach Luft.
Wieso ist er eigentlich aus Fannys Zimmer gekommen? Er wird ihr doch nichts getan haben? Ist sie womöglich da drin? Hat er sie gefesselt und geknebelt oder hält er ihr den Mund zu?
»Was machen Sie da drin?«, kreische ich hysterisch, wobei ich fast rückwärts in die Badewanne falle vor Stress.
»Ich warte, dass Sie wieder aufschließen!«
»Wo ist meine Tochter?!«
»In der Schule, vermutlich.«
»Was haben Sie ihr getan?!«
»Nichts, wirklich, nichts! Bitte beruhigen Sie sich doch!«
»Ich soll mich beruhigen ?«, brülle ich wütend in Richtung Tür. »Sie brechen hier ein und laufen hier nackt rum, und ich soll mich beruhigen?«
»Ich würde mich ja gerne wieder anziehen.«
»So.«
Mehr fällt mir nicht ein. Soll ich etwa sagen: Dann schließe ich jetzt auf. Hempel, angenehm.
Oder wie stellt er sich das vor?
»Wir kennen uns«, sagt die Stimme hinter der Tür gedämpft.
Irgendwie klingt das alles unerwartet höflich und dezent.
Die Stimme kommt mir wirklich bekannt vor.
Ich lege den Kopf schief. Das Hämmern meines Herzens hat sich so weit beruhigt, dass ich in der Lage bin, den Haufen am Boden als Klamottenhaufen zu identifizieren. Da steckt gar keine Leiche drin.
Aha. Das sind also seine Sachen, und er hätte sie jetzt gern wieder.
Da kann er aber lange warten.
»Ich bin jetzt nicht in der Stimmung für Small Talk«, raunze ich die Tür an. »Wir kennen uns mit Sicherheit nicht. Aber Sie werden mich kennenlernen!«
»Aus dem Park.«
»Aus welchem … aus dem Park?!«
Und plötzlich weiß ich, wer da splitternackt in Fannys Kinderzimmer steht.
Gott! Es ist der Penner!
Dieser gurkenbrotessende gutmütige Kerl, dem ich vor der Sonne stand! Dieser Diogenes, den ich vor ein paar Wochen mit meinem Geometrieproblem vollgetextet habe! Der meinte, ich solle mich zu ihm setzen!
Mein Gott, woher weiß er, wo ich wohne?! Na ja, ich habe es ihm selbst gezeigt.
Ist er mir gefolgt?
Steht sein Einkaufswagen womöglich im Vorgarten?
»Sind Sie wahnsinnig?«, brülle ich wütend. »Sie brechen hier einfach ein? Wissen Sie, wie sehr Sie mich erschreckt haben?«
»Das tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Das haben Sie aber! Ich bin in Minuten um Jahre gealtert!«
»Entschuldigung. Ehrlich. Ich dachte, Sie sind nicht da.«
»Hal-lo? Geht’s noch? Ich wohne hier! Ich komme und gehe, wann ich will!«
»Es tut mir leid. Ich wollte nur duschen.«
»Wollten Sie oder haben Sie?«
»Ich wollte.«
»Aha. Und möchten Sie sich auch noch rasieren?«, frage ich höhnisch.
»Habe ich schon, danke. Und Ihre Waschmaschine habe ich mir auch erlaubt zu benutzen.«
Ich starre mit offenem Mund auf die Tür. Dann glotze ich auf die Waschmaschine. Stimmt. Das Vollwaschmittel steht mit offenem Deckel obendrauf.
»Aber hoffentlich nicht bei 90 Grad?«, frage ich automatisch. »Da laufen Ihre Sachen garantiert ein!«
»Schonwaschgang. 40 Grad. Baumwolle.«
Ich glaub’s ja nicht. Der verarscht mich hier!
»So. Jetzt hole ich mein Handy und rufe die Polizei.« Entschlossen stehe ich auf und will gerade in mein Schlafzimmer gehen, als es erneut klopft. Diesmal deutlich energischer. Ich zucke zusammen, der Schreck sitzt mir noch in allen Gliedern.
»Bitte nicht. Bitte! Liebe Frau Hempel, ich bitte Sie von Herzen!«
»Wehe, Sie klopfen noch einmal. Nur noch ein einziges Mal!«, schreie ich hyperventilierend. »Wehe!!«
»Bitte ersparen Sie uns das. Es ist nicht nötig!«
»Wieso uns ?«, zische ich. »Ihnen erspare ich
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