Herzgesteuert: Roman (German Edition)
dazu hatte!«
Noch immer zitternd vor Anspannung, rutsche ich neben sie auf die Küchenbank. Ihr nagelneues Matheheft ziert ein sehr sorgfältig gezeichnetes Koordinatensystem mit x-Achse und y-Achse, und sie ist gerade dabei, ein kompliziertes Gebilde an beiden Achsen zu spiegeln. Wie ein alter Profi.
»Was machst du denn da?« Ich ziehe die Nase hoch. Habe ich mir das alles denn nur eingebildet?
»Mathe. Der Rottweiler hat gesagt, im nächsten Test kann alles vorkommen. Nichts ist unmöglich, Toyoootaaa …«
»Aber du hast es kapiert, ja?«
»Klar. Ist ja eigentlich ganz einfach. Auch der Satz des Pythagoras. Da muss man ja nur von den beiden Katheten die Wurzeln ziehen, wenn man die Hypotenuse zum Quadrat hat. Und bei gleichschenkligen Dreiecken ist es noch viel leichter, weil man automatisch Alpha und Beta ausrechnen kann, weil Gamma immer neunzig Grad hat.«
Ich bin einigermaßen verblüfft.
»Und … du hilfst deiner neuen Klassenkameradin … wie heißt sie noch gleich …?«
»Vicki?«
»Ja … ähm … genau.« Mein Lachen klingt irgendwie nervös und erleichtert. »Christiane hat mir von ihr erzählt. – Wie ist sie denn so?«
»Ganz nett. Aber leider ein Emo.«
»Ein Emo? Ich dachte das heißt Emu? Nach dem australischen Wüstenvogel?«
»Mama, du hast einen Vogel!« Fanny lacht und tippt mir mit dem Zeigefinger liebevoll auf die Stirn. »Emo von emotional!«
Ich schlucke. »Aha. Da lernt man doch immer wieder was dazu.«
»Die Vicki ist voll arm irgendwie.« Fanny blickt mich aus ihren großen unschuldigen Augen besorgt an. »Ihre Mutter hat keine Zeit für sie, und der Vater hat jetzt eine neue Familie mit einer anderen Frau. Deshalb braucht die Vicki Aufmerksamkeit und ist jetzt ein Emo.«
Ich schlucke. Die Ähnlichkeit ihres Schicksals mit dem von Fanny ist allzu verblüffend.
Ich hole tief Luft: »Und? Bist du auch ein Emo?«
»Hä? Mama, spinnst du? Guck mich doch an! Ich bin doch viel zu jung!«
Ein Zustand, der sich automatisch ändern wird.
»Ja, und wenn du irgendwann nicht mehr zu jung bist?«
Fanny nimmt meine Hand und drückt einen Kuss darauf: »Mama. Jetzt bleib mal ganz cool. Die Emos ritzen sich die Handgelenke auf und essen Salz, damit sie kotzen können. Sie schwänzen die Schule und tun sich selbst leid, weil niemand sie versteht. Sie schminken sich total schwarze Augen, saufen und kiffen, hängen an der Salzach ab und sind einfach nur scheiße drauf.«
Ich bin sprachlos. Mein Kind hat den totalen Durchblick! Woher weiß sie das alles?
Fanny scheint meine Gedanken lesen zu können.
»Seh ich so aus, als ob ich da dazugehöre?«
Wie sie mich anblickt, aus ihren offenen Kinderaugen, die kein Wässerchen trüben können! Auf einmal schäme ich mich ganz schrecklich, dass ich ihr das auch nur eine Sekunde zugetraut habe.
Ich lächle sie liebevoll an: »Nein. Wirklich nicht. – Aber um die Vicki kümmerst du dich schon?«
»Nur so lange, bis sie Mathe gecheckt hat, Mama. Sonst bleibt die nämlich noch mal sitzen, und der Rottweiler sagt, dann fliegt sie von der Schule.«
»Das wollen wir natürlich nicht«, murmele ich, während ich mich erhebe, weil das Handy in meiner Handtasche schon seit mindestens fünf Minuten klingelt.
14
D rei Monate sind seitdem vergangen. Auf einmal ist wieder Schule, und wir stehen um sechs Uhr dreißig auf. Es herbstelt schon in unserer Festspielstadt, und wir hatten einigermaßen turbulente Sommerferien, Fanny und ich. Obwohl ich ihr versprochen hatte, dass wir mal zusammen wegfahren, ist leider nichts daraus geworden.
Natürlich musste ich die großen Festspielhausproduktionen im Festspielhaus im Mozart-Chor mitsingen, und natürlich waren Dutzende von Proben fällig. Natürlich haben sich auch unendlich viele interessante Kontakte für mich daraus ergeben.
Die Amerikaner, Japaner und Russen wollen alle Immobilien im Salzkammergut, und ich habe, ehrlich gesagt, nur gearbeitet. Aber dafür auch richtig toll … also richtig toll Kohle gemacht. Dafür habe ich Fanny eine Kreuzfahrt in der Karibik versprochen. Holger Kurschat, ein mit mir befreundeter schwerreicher Reeder aus Hamburg (Charitysponsor und Festspielförderer) hat Fanny und mich für die Herbstferien auf sein Kreuzfahrtschiff eingeladen. Dort soll ich ein paar Diavorträge über das »Leben im Paradies« halten. Auf gut Deutsch: Es wird eine Kaffeefahrt der Luxusklasse.
Fanny war zum Glück viel mit ihrem kleinen schielenden Schwesterchen beschäftigt, ich
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