Herzhämmern
vielleicht nicht …«
»Oh doch«, sage ich. »Ich wollte auch dazugehören.«
Wir schweigen minutenlang.
»Und Ecke?«, frage ich. »Warum macht er es?«
»Er braucht den Kick«, stößt Bonni hervor. »Je gefährlicher, desto besser!« Wütend schlägt er die Stirn auf das Knie des unverletzten Beines.
Ich nicke stumm. »Und … Shelley? Braucht Shelley auch den Kick?«
»Weiß ich doch nicht! Kann schon sein. Oder … ich glaube nicht. Er ist einfach ein komischer Vogel. Nicht ganz normal.«
»Spinnst du, Bonni? Wieso soll er nicht normal sein?«
»Weil er … Ich meine, er macht eben nicht das, was andere mit achtzehn machen!«
»Oh, du willst sagen, er ist ein Individualist!« Da bin ich aber erleichtert.
»Logisch. Ein Spinner. Mann, wenn ich mal ein Auto hab!«
Bonni blüht auf. Ich höre ihm aber nicht mehr zu, ich bin bei Shelley. Es wird ihm doch hoffentlich nichts passiert sein! Eine Menge Zeit ist vergangen, ich weiß nicht, wie viele Stunden. Mir ist schwach vor Hunger und ich fühle mich krank vor Kälte und Angst.Wo bleiben sie so lang? Haben sie den Ausgang nicht gefunden? Haben sie sich verlaufen? Ist ihnen die Lampe ausgegangen und hocken sie irgendwo im Dunkeln?
Bonni erzählt plötzlich zusammenhanglos eine Geschichte, die mich aufhorchen lässt: In Frankreich hat man eine Höhle entdeckt und Forscher sind hineingestiegen und nicht mehr zurückgekehrt; die Rettungsmannschaft kam auch nicht wieder …
Bonni heult jetzt. »Wenn Ecke und Shelley in ein Gasloch geraten sind …«, schluchzt er.
»In ein was?«
In einer Höhle können auch giftige Gase sein, kriege ich aus ihm heraus. Und dass die Forscher in der französischen Höhle tot dalagen. Und die Retter auch.
Mein Kopf schaltet ein Video ein: Ich sehe Shelley und Ecke leblos auf dem Boden eines Schachts liegen, ich drücke die Augen zu vor Schmerz, da wechselt das Bild: Shelley und Ecke in einem Kriechgang, der vor einer Wand endet und so eng ist, dass sie sich nicht umdrehen können; danach sehe ich sie vor einer Rutsche, die in ein Wasserloch führt … Ich sehe sie nie draußen bei Menschen, die helfen können, der Film erlaubt nicht, dass sie den Ausgang finden, es ist ein Horrorfilm. Er arbeitet in mir wie ein Hackmesser, er zerfetzt mich. Gleich fange ich zu schreien an …
Ich muss etwas tun.
Ich muss wirklich etwas tun, ich darf nicht mehr warten, es ist schon viel zu viel Zeit vergangen. Ich muss den Panikschlupf finden und Hilfe holen. Es ist etwas, das ich niemals schaffen kann. Aber ich muss es wenigstens versuchen. Bonni braucht einen Arzt und Shelley und Ecke stecken vielleicht irgendwo fest. Ich klammere mich an den Gedanken, dass ihnen das Licht ausgegangen ist. Damit ich nichts Schlimmeres denken muss.
Und nun muss ich Bonni schonend beibringen, dass er in Kürze allein sein wird. Ich lobe Shelleys guten Scheinwerfer, der, wenn er einmal brennt, ewig brennt, ich erzähle die wunderbare Story von einer Rettungstrage und warmen Decken, und ich gehe an die letzte Notreserve, meine zweite Tafel Schokolade. Sie ist fürchterlich mitgenommen, aber sie wird, hoffe ich, das Wunder vollbringen und Bonni beruhigen. Und mich auch. Denn jetzt kriege ich von der Unabwendbarkeit meines Vorhabens das große Zittern. Ich muss mich bewegen, um es zu überspielen und um Bonni zu täuschen und ihn glauben zu machen, dass ich in null Komma nichts zurück bin und Hilfe bringe.
Ein Drittel der Schokolade ist für mich. Obwohl ich jetzt gar keinen Hunger mehr spüre. Ich schlage Bonni vor, seine Ration einzuteilen und Stück für Stück auf der Zunge zergehen zu lassen, für jeden Wegabschnitt, den ich zurücklegen muss, ein Stückchen. »Wenn du sparsam bist«, sage ich, »hast du noch etwas, wenn ich schon draußen bin.«
Ich wollte, ich könnte auch daran glauben.
Aber etwas Seltsames geschieht: Bonni grinst! Ziemlich schief und zittrig, aber er grinst! Falls er nicht schon im Delirium ist, vertraut er darauf, dass ich geeignet bin, ihn zu retten!
Ganz langsam wächst etwas in mir, das sanfter und wohlschmeckender ist als die Schokolade auf meiner Zunge.
»Ich muss los, Bonni«, flüstere ich rau.
Dort wo ich gesessen habe, reihe ich für ihn die Schokoladenstückchen auf. Das Papier nehme ich mit, vielleicht kann ich damit meinen Weg markieren. Hätten die Jungen in ihrer Überheblichkeit daran gedacht, dann wären wir jetzt nicht in dieser Situation.
»Was machst du da?«, sagt Bonni. »Hältst du mich für ein
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