Herzhämmern
dämmert mir, was mit ihm los ist: Er fürchtet sich vor dem, was ihn erwartet; alle Vorwürfe werden ihn treffen, nicht den jüngeren Bruder. Er tut mir jetzt leid. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Gleichzeitig hasse ich ihn nach wie vor. Denn ihm verdanken wir, dass wir hilflos hier sitzen.
Shelley hat keine Schuld, oder? Ich drücke stumm seine Hand. Er entzieht sie mir aber bald, um wieder im Dunkeln an seinem defekten Scheinwerfer herumzumachen. Er erreicht es schließlich, dass die Lampe glüht; sie tut das zwar nur, wenn sie still auf einem Felsvorsprung steht, aber wir haben Licht, ohne auf die Notreserven unserer beiden Lampen zurückgreifen zu müssen. Geschenktes Licht, denn mit Shelleys Lampe hat keiner mehr gerechnet.
Und jetzt sagt Shelley, dass wir weitergehen werden, um den Ausgang zu suchen und Hilfe für Bonni zu holen.
Ich stehe sofort auf und Ecke auch.
Bonni fängt zu schreien an.
Ecke und Shelley versuchen, ihm klarzumachen, dass er rasche Hilfe braucht. Dass wir keine Ahnung haben, wann uns jemand finden wird. Eine gefährliche Unterkühlung sei das Mindeste, was er sich holen würde. Aber es hilft nichts. Bonni schreit, dass es uns durch Mark und Bein geht.
Ecke und Shelley schauen sich an. Dann wenden sie sich mir zu. Als ich begreife, was sie von mir wollen, wird mir schwarz vor den Augen. Ich klammere mich an Shelleys Arm. »Nein, ihr lasst mich nicht hier zurück!«
10
B onni schreit nicht mehr. Er liegt in meinem Arm und wimmert manchmal leise. Ich habe eine Zeit lang mitgestöhnt, aus Verzweiflung und Verlassenheit und Todesangst. Inzwischen bin ich still geworden. Die Kälte der nassen Steine ist mir bis ans Herz gekrochen. Ich denke jetzt an meinen Vater. Zuerst habe ich nur an mich gedacht und an meine Angst und an Shelley. Aber seit ich die Kälte so stark spüre, ist Martin da. Ich habe meinen Vater ja nie gesehen und sollte ihn deshalb auch nicht vermissen, ich meine, es sollte nicht wehtun, an ihn zu denken. Nicht so weh jedenfalls wie die Vorstellung, dass meine Mutter plötzlich aus meinem Leben verschwinden könnte. Oder ich aus ihrem …
Wie kann ich ihr das nur antun! Ich kriege einen Kloß in den Hals, und wenn ich mich jetzt nicht zusammenreiße, fange ich auch noch zu heulen an. Meine arme Mutter. Sie hat schon genug mitgemacht, sie hat um Martin geweint … Ich kann gar nichts dagegen tun, dass mir jetzt die Tränen übers Gesicht laufen, ich will auch nichts dagegen tun, ich halte Bonni fest und schniefe und denke an meine Eltern. Martin ist zur Zeit ihres intensivsten Glücks ums Leben gekommen. Er war an einem Wochenende ohne Gitta mit Freunden in die Berge gefahren. Sie wäre mitgekommen, aber Skifahren im achten Monat - das war dann doch zu riskant. Martin trennte sich von der Gruppe und verließ die ausgewiesene Piste. Als er am Abend nicht zurückkehrte, veranstaltete man eine Suchaktion. Über Nacht fiel Neuschnee und deckte seine Spuren zu. Mein Vater ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einer Gletscherspalte gestorben. Er war fünfundzwanzig Jahre alt. Man hat seine Leiche nicht gefunden.
Ich weine leise vor mich hin. Noch nie war mir mein Vater so gegenwärtig wie jetzt. Ich kenne ihn aus seinen Studienunterlagen, das Vertrauteste ist seine Schrift, denn ich habe alles gelesen, was er hinterlassen hat; ich habe seine Fotos angeschaut, auf den meisten lacht er. Er war so lebendig. Aber jetzt denke ich an seine Todesstunde. Ich weiß nicht, ob ihn der Sturz getötet hat oder ob er nur verletzt war und eingeschlossen im Eis langsam erfrieren musste. Mein Vater. Und meine Mutter hat ihn grenzenlos geliebt. Ich weiß das, und ich glaube, sie sucht ihn in mir, sie will, dass ich werde, wie er war. Sie hat durchaus Freunde, und manchmal ist es auch mehr als Freundschaft, aber noch nie ist einer bei uns eingezogen und nie hat sie Martins Urkunden, Trophäen und Fotos weggeschafft, für keinen einzigen Freund. Seine Pullis hat sie behalten und viele andere persönliche Dinge auch. Nur mit den Sachen aus seinem Studium konnte sie nichts anfangen, sie ließ sie aber immerhin zehn Jahre in ihrem Schrank liegen. Im Wohnzimmer haben wir eine Pinnwand, in der Mitte ist ein Herz, in dem Martin und Gitta steht, darum herum stecken lauter Fotos, auf denen man sie beide sieht. Er soll sich geradezu irrsinnig auf mich gefreut haben, mein Vater. Als ich noch klein war, hat meine Mutter einmal gesagt: »Dein Papa ist im Eis. Wenn der Gletscher
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