Herzklopfen auf Französisch - Perkins, S: Herzklopfen auf Französisch
Ich spähe über den Rand. »Guck mal! Der Typ da ist so besoffen, der fällt gleich vom …« Ich blicke flüchtig hinter mich und stelle fest, dass St. Clair mit wackligen Beinen auf der Straße steht, mindestens einen Meter vom Brückenrand entfernt.
Einen Moment lang bin ich verwirrt. Dann kapiere ich es. »Was denn? Du hast doch nicht etwa Höhenangst?«
St. Clair blickt stur nach vorn, auf die beleuchtete Silhouette von Notre-Dame. »Ich begreife bloß nicht, wie man freiwillig auf einem Vorsprung stehen kann, wenn man daneben genügend Platz zum Gehen hat.«
»Ach, darum geht es, um genügend Platz, ja?«
»Hör sofort auf oder ich frage dich über Rasputin ab. Oder französische Verbtabellen.«
Ich beuge mich über die Brüstung und tue so, als würde ich das Gleichgewicht verlieren. St. Clair wird blass. »Nein! Nicht!« Er streckt die Arme aus, als wollte er mich festhalten, und greift sich dann aber an den Bauch, als müsste er sich stattdessen übergeben.
»Sorry!« Ich mache einen Sprung vom Brückenrand weg. »Tut mir leid, ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.«
Er wedelt mit einer Hand, um mir zu bedeuten, dass ich zu reden aufhören soll. Mit der anderen Hand hält er sich immer noch den rumorenden Magen.
»Tut mir leid«, sage ich nach einer Weile noch einmal.
»Komm weiter.« St. Clair klingt genervt, als wäre ich diejenige, die uns aufhält. Er zeigt auf Notre-Dame. »Deswegen habe ich dich nicht hergebracht.«
Ich kann mir nichts Besseres als Notre-Dame vorstellen. »Wir gehen nicht rein?«
»Geschlossen. Wir haben noch genug Zeit, um sie uns später anzusehen, schon vergessen?« Er führt mich auf den Hof und ich nutze die Gelegenheit sein Hinterteil zu bewundern. Kallipygisch. Es gibt etwas Besseres als Notre-Dame.
»Hier«, sagt er.
Wir haben einen perfekten Blick auf den Eingang – auf Aberhunderte winziger Figuren, die in drei riesige Torbögen eingemeißelt sind. Die Statuen sehen aus wie steinerne Puppen, jede ist für sich und jede sieht anders aus. »Sie sind unglaublich«, flüstere ich.
»Nicht da. Hier.« Er zeigt auf meine Füße.
Ich blicke nach unten und stelle verblüfft fest, dass ich mitten in einem kleinen Steinkreis stehe. In der Mitte, genau zwischen meinen Füßen, befindet sich ein kupfer-bronzenes Achteck mit einem Stern. In die vier Steine ringsherum sind die Worte eingemeißelt: » POINT ZÉRO DES ROUTES DE FRANCE .«
»Mademoiselle Oliphant. Übersetzt heißt das ›Nullpunkt der Straßen von Frankreich‹. Anders ausgedrückt: Es ist der Punkt, von dem aus alle anderen Entfernungen in Frankreich gemessen werden.« St. Clair räuspert sich. »Es ist der Anfang von allem.«
Ich blicke auf. Er lächelt.
»Willkommen in Paris, Anna. Ich freue mich, dass du da bist.«
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Kapitel neun
S t. Clair steckt die Hände in die Taschen und tritt mit den Stiefelspitzen gegen das Kopfsteinpflaster. »Na?«, fragt er schließlich.
»Danke.« Ich bin überwältigt. »Es war wirklich lieb von dir, dass du mich hergebracht hast.«
»Tja.« Er richtet sich auf und zuckt die Achseln – es ist dieses französische Achselzucken mit dem ganzen Körper, das er so gut kann – und kehrt wieder zu seiner üblichen selbstsicheren Art zurück. »Man muss ja irgendwo anfangen. Jetzt wünsch dir was.«
»Hä?« Das ist meine Art, mich auszudrücken. Ich sollte Epen schreiben oder Jingles für Katzenfutterwerbung.
Er grinst. »Stell dich auf den Stern und wünsch dir was.«
»Oh. Okay, klar.« Ich schiebe die Füße zusammen, sodass ich in der Mitte stehe. »Ich wünsche mir …«
»Du darfst es nicht laut aussprechen!« St. Clair stürzt auf mich zu, als wollte er meine Worte mit seinem Körper aufhalten, und mein Magen macht einen Sprung. »Weißt du denn gar nichts darüber, wie man sich etwas wünscht? Man darf das schließlich nicht so oft im Leben. Nur bei Sternschnuppen, Wimpern, Pusteblumen …«
»Geburtstagskerzen.«
Er ignoriert die Anspielung. »Genau. Deshalb solltest du die Gelegenheit nutzen, wenn sie sich ergibt. Und es heißt, wenn man auf diesem Stern steht und sich was wünscht, geht es in Erfüllung.« Er zögert kurz, bevor er weiterspricht. »Und das ist besser als der andere Aberglaube, von dem ich gehört habe.«
»Dass ich auf schmerzvolle Weise durch Vergiftung, Erschießen, Folter und Ertrinken sterbe?«
»Unterkühlung, nicht Ertrinken.« St. Clair lacht. Er hat ein tolles, jungenhaftes Lachen. »Nein, das nicht. Aber ich habe gehört,
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