Herzklopfen auf Französisch - Perkins, S: Herzklopfen auf Französisch
weißt es nicht.«
»Ich weiß was nicht?«
Er ist voller Schadenfreude, dass er etwas weiß, was ich nicht weiß. Was mich ärgert, weil uns sowieso beiden klar ist, dass er alles über das Leben in Paris weiß, während ich den Durchblick eines Schokocroissants habe.
»Und ich hatte den Eindruck, du wärst so was wie ein Kinofreak.«
»Was? Was weiß ich nicht?«
St. Clair macht eine ausschweifende kreisförmige Handbewegung und genießt diese Situation ganz offensichtlich. »Paris … ist die Stadt … mit dem meisten Filmverständnis … auf der ganzen Welt.«
Ich bleibe abrupt stehen. »Du machst wohl Witze?«
»Nein. Du wirst keine Stadt finden, die filmverliebter ist als Paris. Hier gibt’s Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Kinos.«
Mein Herz fühlt sich an, als würde es in meiner Brust herunterrutschen. Mir ist schwindelig. Das kann nicht wahr sein.
»Allein hier in der Gegend gibt es mehr als ein Dutzend.«
»Was?«
»Du hast es wirklich nicht gemerkt?«
»Nein, hab ich nicht! Wie kommt’s, dass mir das niemand erzählt hat?« Ich meine, das hätte gleich am ersten Tag in den Lebenskundeseminaren erwähnt werden müssen. Das ist doch eine sehr wichtige Information! Wir gehen weiter und ich recke den Kopf in alle Richtungen, um all die Plakate und Leuchtreklamen zu lesen. Bitte sei auf Englisch. Bitte sei auf Englisch. Bitte sei auf Englisch.
»Ich dachte, du wüsstest es. Sonst hätte ich was gesagt.« Endlich macht er ein zerknirschtes Gesicht. »Es wird hier als ziemlich hohe Kunst angesehen. Es gibt Unmengen an Kinos, in denen aktuelle Filme laufen, aber sogar noch mehr – wie nennt man die? Programmkinos. Die zeigen Klassiker oder spielen Programme, die verschiedenen Regisseuren oder Genres oder obskuren brasilianischen Schauspielerinnen oder wem auch immer gewidmet sind.«
Atme, Anna, atme. »Und sind die auf Englisch?«
»Mindestens ein Drittel davon, nehme ich an.«
Ein Drittel! Von ein paar Hundert oder vielleicht sogar Tausend Filmtheatern!
»Ein paar amerikanische Filme sind französisch synchronisiert, aber das sind hauptsächlich die für Kinder. Die übrigen werden auf Englisch mit französischen Untertiteln gezeigt. Hier, warte mal.« St. Clair zieht eine Zeitschrift namens Pariscope aus dem Ständer eines Zeitungskiosks und bezahlt den fröhlich wirkenden Verkäufer mit Hakennase. Dann drückt er mir das Heft in die Hand. »Es erscheint jeden Mittwoch. ›VO‹ bedeutet version originale . ›VF‹ bedeutet version française , was bedeutet, dass sie synchronisiert sind. Also halte dich an die VOs. Die Programmlisten findest du auch im Internet«, fügt er hinzu.
Ich blättere hektisch das Magazin durch und meine Augen werden glasig. Noch nie habe ich so viele Filmaufzählungen gesehen.
»Mann, wenn ich gewusst hätte, dass dich das schon glücklich macht, hätte ich mir den Rest gespart.«
»Ich liebe Paris«, sage ich.
»Und ich bin sicher, es liebt dich auch.«
Er redet weiter, aber ich höre nicht zu. Es gibt diese Woche einen Buster-Keaton-Marathon. Und einen weiteren mit lauter Teenie-Slashern. Und ein ganzes Programm mit Auto-Verfolgungsjagden aus den 1970ern.
»Was?« Ich merke plötzlich, dass er mir eine Frage gestellt hat, die ich nicht mitbekommen habe, und auf eine Antwort wartet. Als er nichts sagt, schaue ich von den Kinoprogrammen auf. Sein Blick ruht starr auf einer Gestalt, die gerade aus unserem Wohnheim getreten ist.
Das Mädchen ist ungefähr so groß wie ich. Ihr langes Haar ist kaum gestylt, aber auf modische, Pariser Art. Sie trägt ein kurzes silbernes Kleid, das im Licht der Laternen glitzert, und darüber einen roten Mantel. Ihre Lederstiefel klackern auf dem Gehweg. Sie blickt mit einem leichten Stirnrunzeln über die Schulter zur Résidence Lambert zurück, dreht sich dann aber um und bemerkt St. Clair. Ihre ganze Erscheinung hellt sich auf.
Das Magazin liegt schlaff in meinen Händen. Sie kann nur eine einzige Person sein.
Das Mädchen beginnt zu rennen und wirft sich St. Clair in die Arme. Sie küssen sich und sie fährt ihm mit den Fingern durchs Haar. Sein wunderschönes, perfektes Haar. Mir zieht sich der Magen zusammen und ich wende mich von dem Anblick ab.
Sie lösen sich voneinander und sie beginnt zu reden. Ihre Stimme ist überraschend tief – sinnlich –, aber sie spricht ziemlich schnell. »Ich weiß, wir wollten uns heute Abend nicht sehen, aber ich war gerade in der Gegend und dachte, du möchtest vielleicht in
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