Herzschlag der Nacht
hineingehen.«
»Nur zu.« Wieder schloss er die Augen und blieb an die Mauer gelehnt.
Die Versuchung war groß, ihn einfach stehen zu lassen. Doch beim Anblick seiner starren, schweißglänzenden Züge überkam Beatrix eine Welle von Zärtlichkeit.
Er sah so groß und unerschütterlich aus, zeigte keinen Anflug von Emotionen, ausgenommen die steile Falte zwischen seinen Brauen. Dabei wusste sie, dass er maßlos angespannt war. Kein Mann verlor gern die Kontrolle, erst recht nicht einer, dessen Leben so oft von seiner Fähigkeit abgehangen hatte, sich vollkommen zu beherrschen.
Wie sehr wünschte sie, sie könnte ihm von ihrem geheimen Haus in der Nähe erzählen. Kommen Sie mit , würde sie sagen, ich bringe Sie an einen wunderschönen ruhigen Ort …
Stattdessen zog sie ein Taschentuch aus der verborgenen Tasche ihres Kleides und ging auf ihn zu. »Halten Sie still«, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und tupfte ihm sorgfältig das Gesicht ab.
Er ließ es geschehen.
Als sie fertig war, blickte er zu ihr herab. »Ich habe solche Momente von … Wahnsinn«, sagte er ernst. »Mitten in einer Unterhaltung oder bei simplen Verrichtungen tauchen Visionen in meinem Kopf auf. Sie löschen alles andere für kurze Zeit aus, sodass ich hinterher nicht weiß, was ich gerade gesagt oder getan habe.«
»Was für Visionen?«, fragte Beatrix. »Von Dingen, die Sie im Krieg gesehen haben?«
Er nickte kaum merklich.
»Das ist kein Wahnsinn«, sagte sie.
»Was ist es dann?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
Ein bitteres Lachen entfuhr ihm. »Sie haben nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden.«
»Ach, habe ich nicht?« Beatrix sah ihn an und fragte sich, wie weit sie ihm vertrauen durfte. Ihr Selbsterhaltungstrieb rang mit dem Wunsch, ihm zu helfen. »Kühnheit, sei mein Freund« , ging ihr ein Lieblingszitat von Shakespeare durch den Kopf. Es war quasi das Familienmotto der Hathaways.
Nun gut. Sie würde ihm ein beschämendes Geheimnis anvertrauen, von dem sie bisher niemandem außerhalb der Familie erzählt hatte. Falls es ihm half, war es das Wagnis wert.
»Ich stehle Dinge«, gab sie zu.
Er merkte auf. »Wie bitte?«
»Kleine Dinge. Schnupftabaksdosen, Siegelwachs, unbedeutende Kleinigkeiten. Und niemals mit Absicht.«
»Wie können Sie unabsichtlich stehlen?«
»Ach, es ist furchtbar«, gestand Beatrix. »Ich bin in einem Geschäft oder in jemandes Haus und sehe ein kleines Objekt … es kann etwas Wertvolles wie ein Schmuckstück oder etwas Unwichtiges wie ein Stück Schnur sein … und mich überkommt ein schreckliches Gefühl. Es ähnelt einer Ängstlichkeit oder inneren Unruhe … Hat Sie jemals etwas so sehr gejuckt, dass Sie glaubten, Sie müssten sterben, wenn Sie nicht kratzen, aber genau das dürfen Sie nicht?«
Seine Mundwinkel zuckten. »Ja, gewöhnlich verspürt man solch ein Jucken in den Militärstiefeln, wenn man knietief im Wasser eines Schützengrabens steht und um einen herum geschossen wird. In derlei Situationen wird man garantiert von diesem Jucken heimgesucht.«
»Meine Güte. Nun, ich versuche zu widerstehen, aber das Gefühl wird immer schlimmer, bis ich schließlich das fragliche Objekt nehme und in meine Tasche stecke. Später dann, wenn ich wieder zu Hause bin, empfinde ich eine maßlose Scham und muss mir überlegen, wie ich die gestohlenen Sachen zurückbringen kann. Meine Familie hilft mir. Doch es ist so viel schwieriger, etwas zurückzubringen, als es zu stehlen.« Sie verzog das Gesicht. »Manchmal bin ich mir gar nicht recht inne, was ich tue. Deshalb wurde ich des Pensionats verwiesen. Ich hatte eine ganze Sammlung von Haarbändern, Federgriffen, Büchern. Ich bemühte mich, die Sachen zurückzubringen, nur erinnerte ich mich nicht mehr genau, wo ich sie an mich nahm.« Beatrix blickte zaghaft zu ihm auf und machte sich auf Verachtung gefasst.
Aber seine Gesichtszüge wirkten weicher, und seine Augen waren warm. »Wann hat es angefangen?«
»Nachdem meine Eltern starben. Mein Vater ging eines Abends mit Schmerzen in der Brust zu Bett und wachte nicht wieder auf. Für meine Mutter war es am schlimmsten. Sie hörte auf zu reden, aß so gut wie nichts mehr und zog sich von allen zurück. Wenige Monate später starb sie vor Kummer. Ich war noch sehr jung, dachte nur an mich, nehme ich an, und fühlte mich verlassen. Ich fragte mich, warum sie mich nicht genügend liebte, um bei mir zu bleiben.«
»Was nicht heißt, dass Sie selbstsüchtig waren«, sagte er ruhig
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